Michael Wildenhain: Die Erfindung der Null

Blutverschmierte Kleidung, ein Gürtel mit Spermaspuren, merkwürdige Überbleibsel im Müll des Hotels – die 47-jährige Susanne Melforsch ist nach einer Wanderung durch die Alpes-de-Haute-Provence spurlos verschwunden. Alles deutet auf ein Verbrechen hin. Ihre Urlaubsbegleitung Martin Gödeler, Doktor der Mathematik, gerät ins Visier der Ermittlungen. Der ehrgeizige junge Staatsanwalt will Gödeler überführen, doch als Person ist der Verdächtige kaum zu fassen. Er gibt sich äußerst auskunftsfreudig, doch wirft seine Geschichte immer weitere Fragen auf.

Einst ein gefeierter Gelehrter auf der Überholspur, gerät Gödeler in einer Abwärtsspirale. Das Thema seiner Habilitationsschrift entgleitet ihm zusehends, für eine Affäre mit unglücklichem Ausgang opfert er sein Familienleben. Als Nachhilfelehrer endet er schließlich in einer trostlosen Souterrain-Wohnung in Stuttgart, ein Schatten seiner selbst. Seine Ambitionen hat er ebenso aufgegeben wie die tägliche Körperpflege. Doch plötzlich entdeckt er unter den Jugendlichen ein Mathematikgenie. Jurek, ein schüchterner Junge mit Sprachfehler, scheint über außergewöhnliche Begabungen zu verfügen, ebenso wie seine Freunde Zacharias, ein afghanischer Flüchtling und Juno, die aus einem sozialen Brennpunkt stammt. Gödelers Lebensgeister sind wieder geweckt. Doch die Jugendlichen verfolgen eigene Pläne. Als Susanne Melforsch in Stuttgart vor seiner Türe steht, mit der er vor Jahren einmal im Bett gelandet war, überschlagen sich die Ereignisse. Im Hintergrund laufen Fäden zusammen, die Gödeler erst nach und nach durchschaut.

Etwas irreführend ist die Beschreibung des Buchrückens. Denn der Roman ist nicht wie eine Verhörsituation oder ein Dialog zwischen Staatsanwalt und Verdächtigem aufgebaut. Der Plot speist sich einzig aus den Aussagen und Erzählungen von Martin Gödeler – in chronologisch nicht linearer Version. Zeitsprünge und Perspektivwechsel fordern den Lesern Konzentration ab. Das Kräfteverhältnis der Parteien verschiebt sich tatsächlich, aber subtil auf einer Hintergrundebene, die erst am Ende aufgelöst wird.

Gödeler entspricht ebenfalls dem mathematischen Pendant einer Null. Wir Leser können den Protagonisten kaum greifen, er scheint der Geschichte entrückt. Er ist weder ein Sympath, noch ein Psychopath, weder Held noch Bösewicht, weder Genie noch Wahnsinniger. Selbst Wutausbrüche beschreibt er so, als beobachte er sich selbst in einem Versuchslabor. Dem Feld der Emotionen nähert er sich über die mathematische Ebene. Denn: „Gefühle sind dem Denken unzugänglich.“ Die Null wird zu einem Symbol, um die Akteure zu beleuchten. Susanne nähert sich der Null über die Kabbala. Für sie ist die Null ohne Anfang und Ende. „Alles sei in ihr, zugleich außerhalb. Null sei Universum und Vollendeng.“ Für Gödeler ist die Null ein Zeichen, einzig dazu gedacht, um mathematische Operationen überhaupt erst zu ermöglichen.

Der Autor, der selbst einmal Mathematik studiert hatte, wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Er erhielt unter den Alfred-Döblin-Preis sowie diverse Stipendien wie das London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds. Seine Prosa ist anspruchsvoll, manchmal sperrig. Der Roman fordert seine Leser. Wildenhain stellt die Handlung einer mathematischen Beweisführung gegenüber. Ein ungewöhnliches Unterfangen, das als geglückt bezeichnet werden darf. Wer mit Algebra auf Kriegsfuß steht, könnte allerdings des Öfteren ins Stolpern geraten. Eine gewisse Affinität zu Zahlen und Mathematik sollte gegeben sein, um den Roman auf allen Ebenen auskosten zu können.

Michael Wildenhain: Die Erfindung der Null.
Klett-Cotta, Juli 2020.
303 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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