Matt Haig: Die Mitternachtsbibliothek

Wer kennt ihn nicht, den alten Schwarz-Weiß-Film „Ist das Leben nicht schön“ mit James Stewart, den man jedes Jahr um die Weihnachtszeit im Fernsehen anschauen kann. An diesen Film erinnert mich der neue Roman des britischen Autors Matt Haig.

Nora Seed, Mitte Dreißig, ist in ihren eigenen Augen eine komplette Versagerin. Sie verliert ihren Job, ihre Katze wird überfahren, ihre beste Freundin hat den Kontakt zu ihr abgebrochen und ihr Bruder will nichts mehr mit ihr zu tun haben. Nora beschließt, es ist Zeit, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Doch statt zu sterben, landet sie in der Mitternachtsbibliothek. Diese heißt so, weil dort die Uhr stets auf Mitternacht steht. In dieser Bibliothek finden sich alle Bücher ihres Lebens, der Leben, die sie hätte führen können, wenn sie an dieser oder jener Wegkreuzung anders abgebogen wäre. Nora bekommt die Gelegenheit, diese möglichen Lebenswege auszuprobieren, um herauszufinden, ob sie wirklich sterben will. Die „Bibliothekarin“ in der Mitternachtsbibliothek, die für Nora die passenden Bücher heraussucht, ist Mrs Elm, die während Noras Schulzeit die Bücherei leitete und zu der Nora eine enge Beziehung hatte. Mrs Elm fragt Nora nach den Entscheidungen oder Handlungen in ihrem Leben, die sie am meisten bereut. Davon ausgehend wählt Nora beispielsweise das Buch, welches ihr das Leben zeigt, das sie als Polarforscherin geführt hätte. Oder das Leben als erfolgreiche Schwimmerin. Doch wenn die Lebensalternativen ihr nicht zusagen, kommt sie stets zurück in die Mitternachtsbibliothek.

Die gesamte Geschichte ist wie eine Philosophiestunde, immer wieder spricht vor allem Mrs Elm Lebensweisheiten aus, über die man nachdenken sollte. Passenderweise hat Nora ein Philosophiestudium absolviert und ihr Lieblingsphilosoph ist Henry David Thoreau.

Noras verschiedene Leben bedeuten dabei, ähnlich wie in dem oben erwähnten Film, nicht nur gravierend unterschiedliche Lebensläufe für sie selbst, sondern auch für alle Menschen, mit denen sie in Beziehung steht. Das vor allem erschreckt sie natürlich und ist daher für sie eine besondere Lehrstunde.

Die Grundidee von Matt Haig ist prickelnd, dadurch weicht sein Roman wohltuend vom aktuellen Mainstream aus Krimis und Liebesschmonzetten ab. Auch seine facettenreiche Fantasie, mit der er Noras Alternativleben ausgestaltet, ist faszinierend. Dabei erahnt man allerdings auch relativ schnell das Muster der Episoden, wie man auch das Ende, die Auflösung sehr früh vorausahnt.

An mancher Stelle war mir der Roman ein wenig zu langatmig, waren die philosophischen Thesen etwas zu plakativ. Da aber der Autor seine Geschichte in wunderschöne Worte fasst, in anrührenden Bildern erzählt und da Nora eine sehr sympathische Protagonistin ist, die man gerne immer mal wieder tröstend in den Arm nehmen möchte, ist der Roman rundherum ein wunderbares Leseerlebnis. Doch sollte man sich für die Lektüre Zeit nehmen, sich für jeden Satz Zeit lassen, damit er seine Wirkung entfalten kann.

Matt Haig: Die Mitternachtsbibliothek.
Droemer, Februar 2021.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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