Martin Kluger: Der Vogel, der spazieren ging

Was für eine Mischpoke! Samuel Leiser hat ein schwieriges Verhältnis zu seinen Familienmitgliedern. Ob der abweisende, jüdisch-deutsche Vater, die kapriziöse Ex-Frau aus Uruguay, die 13-jährige Tochter mit Hang zum Weltschmerz oder die spanische Geliebte mit Selbstfindungskrisen – als diese und weitere obskure Bekanntschaften in der Pariser Wohnung des Übersetzers einfallen, drohen unbewältigte Probleme aufzubrechen. Samuel Leiser weiß nicht mehr, wie ihm geschieht. Schnell erkennt er: Seinem Familienerbe kann man nicht entkommen. Es verfolgt einen über Jahrzehnte und Kontinente hinweg. Ein amüsanter, aber gleichfalls tiefsinniger Roman mit jeder Menge skurriler „Shmoks“ und „Shiksen“. Masel-tov!

Paris, Anfang der 1970er Jahre. Samuel Leiser freut sich auf seine 13-jährige Tochter Ashley, die für ein Jahr bei ihm leben soll. Er möchte das Verhältnis zu ihr vertiefen und alles anders machen, als sein eigener Vater. Dieser ist durch einen Trick vor den Nazis nach Amerika geflohen, indem er sich als Schriftsteller ausgab. Zu diesem ist er in der Tat später geworden – mit Detektivromanen erlangte er Weltruhm. Aus Yehuda Leiser wird Jonathan Still, das Deutsche plus Jüdische will der Neu-Amerikaner am liebsten völlig ablegen. Doch seine Chronik weist einige Ungereimtheiten auf. Er stammt aus einem Ort, den es auf keiner Landkarte gibt. Samuels Mutter ist hingegen unter mysteriösen Umständen verschwunden – hat sie ihre Familie verlassen, ist sie gestorben, hat womöglich sogar der Vater etwas mit ihrem Tod zu tun? Samuel knabbert zeitlebens an diesen Fragen und leidet unter seinem strengen Vater, der sich als allherrschendes Familienoberhaupt versteht. Trotz einiger schwerwiegender Fehler seines Erzeugers schafft es Samuel nie, sich ganz von ihm zu lösen. Er arbeitet für ihn, übersetzt seine Romane ins Deutsche.

Als die rebellische, frühreife Tochter von Samuel auftaucht, zeigt sie außerordentliches Interesse an ihrer jüdischen Vergangenheit, sehr zum Leidwesen von Samuel. Von verrückten, handlesenden Großmüttern bis hin zu Meyer Mushkin, Yehudas rechter Hand und Onkel, der zu drastischen Mitteln greift – wie unsägliche Familienaufstellungen oder das Entsorgen von menschlichen Überresten in einer – dringen plötzlich wieder in Samuels Leben ein. Yehudas neue Geliebte, eine romantische Kitschautorin sowie der neue Freund seiner Ex-Frau, ein arroganter Schauspielstar, tragen zur weiteren Eskalation der Lage bei. Gerade, wo sich Samuel seit Jahren wieder ernsthaft in eine viel jüngere Geschichtsstudentin verliebt hat. Ob Vater, Sohn, Freund, Geschäftskollege – Samuel scheint in jeder seiner Rollen leicht überfordert.

Wie Martin Kluger die Irrungen und Wirrungen dieser jüdisch-deutsch-uruguayischen Familie darstellt, ist eine Wonne zu lesen. Herrliche Dialoge und groteske Charaktereigenschaften lassen einem beim Lesen die Familie mehr und mehr ans Herz wachsen. Dabei erlauben sich die einzelnen Protagonisten durchaus schwerwiegende Fehlgriffe. Seitensprünge, Lug und Trug, Erpressung und Manipulation stehen auf der Tagesordnung. Auch wenn es alle scheinbar gut meinen, bleibt am Ende der eine oder andere auf der Strecke…

Die deutsche Sprache, der jüdische Hang zum Drama, die intellektuelle Elite voller „schlüpferloser“ Stars und Sternchen – alle bekommen in diesem Roman ihr Fett weg. Teils durch die knochentrockenen Kommentare des Ich-Erzählers Samuel, teils in köstlichen Dialogen.

Beispiel Eins – Samuels Betrachtung zur neuen Flamme seines Vaters:
„Vater behandelte sie, wie er die Frauen schon immer behandelt hatte, mit zuvorkommender Nichtachtung, nobler Geringschätzung oder amüsiert-maßregelnder Strenge. Rachel wiederum bemutterte, ermahnte (Yehuda, muss diese Zigarette jetzt sein) und verzärtelte ihn. Wenn sie wirklich ein Paar waren, passten sie hervorragend zusammen, besser konnte man gar nicht aneinander vorbeireden, sich gegenseitig aufheben“. (S. 271)

Beispiel Zwei – eine intellektuelle Auseinandersetzung über die „olle“ deutsche Sprache:
„Zum Beispiel der Mond. In allen intelligenten Sprachen ist der Mond feminin. La lune, la luna. Nur in Deutschland ist la lune ein Mann.“
„Dafür gibt es bedeutende deutsche Gedichte, die den Mond besingen, wie er nirgendwo sonst auf der Erde besungen wurde“, sagte ich. „Der Mond ist aufgegangen…“, fügte ich hinzu, aber das war’s auch schon, mehr fiel mir nicht ein.
„Ich sehe es direkt vor mir wie Débussy auf sein Notenpapier schreibt: Clair de der Mond.“ (S. 281)

Fazit: Dem 2021 verstorbenen Autor, Werbetexter, Drehbuchscheiber und Übersetzter Martin Kluger ist mit diesem Roman ein ebenso amüsantes wie melancholisches Familienporträt gelungen. Wer bizarre Charaktere liebt, wird sich in diesem Roman wie zuhause fühlen.

Martin Kluger: Der Vogel, der spazieren ging.
DuMont Buchverlag, März 2022.
318 Seiten, Taschenbuch, 12,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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