Marina Lewycka: Die Werte der modernen Welt und Berücksichtigung diverser Kleintiere

„Wir müssen alle lernen, mit weniger zu leben. Weniger Gier, weniger sinnloser Konsum.,“ meint Althippie Doro. Ihr Sohn Serge kontert: „Die Wirtschaft hängt davon ab, dass sich Leute Geld leihen und es ausgeben, so entsteht Wohlstand.“ Bei diesem Generationenkonflikt prallen Welten aufeinander. Daher hat Serge seiner Mutter bislang verschwiegen, dass er das Mathematikstudium an den Nagel gehängt hat, um zur kapitalistischen Hochburg überzulaufen – der Londoner Börse! Autorin Marina Lewycka ist ein perfekt austarierter Roman zwischen Witz, Wahnsinn und Gesellschaftskritik gelungen. Mittendrin agieren herrlich verschrobene Charaktere, die einem mit all ihren Eigenarten sofort ans Herz wachsen.

Serge hat seine Kindheit in einer Kommune verbracht. Für ihn bedeutete dies pures Chaos: tägliche Linsenpampe, ständige Geldprobleme, garniert mit den Sexplänen der Erwachsenen (jeder darf mal bei jedem zum Zuge kommen), die direkt neben den Kochplänen aufgehängt wurden. Plus der morgendliche Kleiderkampf mit den anderen Kommunenkindern. Wer nicht schnell genug war, bekam aus dem Textilberg zu kurze, zu mädchenhafte oder knallbunt-peinliche Stücke ab. Heute trägt Serge Designeranzüge und ist auf dem Weg nach oben. Als Investmentbanker arbeitet er in einer angesehenen Londoner Bank, genießt die Aussicht von seiner Penthousewohnung plus den Anblick auf seine ebenso kluge wie attraktive Kollegin Maroushka. Einziges Problem: Serges Familie ahnt nichts von seinem Doppelleben. Als seine Eltern nach 35 Jahren wilder Ehe tatsächlich den Bund fürs Leben besiegeln wollen, droht alles aufzufliegen.

Kommunismus versus Kapitalismus – mit großer Lust am Fabulieren lässt Autorin Marina Lewycka die beiden Systeme aufeinander krachen! Die Tochter ukrainischer Einwanderer, die in England seit Jahren große Erfolge als Schriftstellerin feiert, zeigt die Schwachstellen beider Überzeugungen auf. Die Werte der modernen Welt sind gar nicht so einfach zu definieren. Fast alle Protagonisten hadern bisweilen mit ihren Überzeugungen. Dazu passt, dass die Handlung im Jahr 2008 spielt, dem Jahr der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise.

Serges Schwester Claire, die als erstes Kommunenkind die Verantwortung für ihre leiblichen sowie ideologischen Geschwister zu tragen hatte, kümmert sich als Lehrerin um sozial benachteiligte Kinder. Im Gegensatz zu Serge trägt sie die Werte ihrer Eltern weiter, hat jedoch manchmal ihre Rolle als „die Vernünftige“ satt. Doro kümmert sich leidenschaftlich um ihr Kommunenkind Oolie-Anna, eine Dreiundzwanzigjährige mit Down-Syndrom. Zudem kämpft sie für den Umweltschutz und verteidigt ihre Kleingartenanlage gegen korrupte Stadträte, die darauf einen Konsumtempel errichten möchten. Jedoch hat das Credo „Gleichheit-Freiheit-Brüderlichkeit“ seine Tücken. Trotz freier Liebe sind die Akteure nicht vor Eifersucht gefeit. Zudem zeigt sich Jahrzehnte später, dass scheinbar leibliche Väter gar nicht die wirklichen Erzeuger sind!

Während Doro die Parolen von Marx und Lenin skandiert, hat Maroushka aus dem ukrainischen Shytomyr davon die Nase voll. Graue Betonklötze, Armut und überall stinkt es nach Kohl. Nie wieder! Der Shootingstar unter den Börsianern – das Mathematikgenie hat sich als Putzfrau hochgearbeitet – liebäugelt mit sexy Kostümen, teurem Champagner und den Annehmlichkeiten der freien Marktwirtschaft. Ohne Moos nix los! Blind vor Liebe versucht Serge, bei seiner Traumfrau zu landen. Er verstrickt sich in illegale Geschäfte, was ihn vor moralische Schwierigkeiten stellt. Darf man für seine eigene Traumvilla Arbeitsplätze zerstören? Hat am Ende die Kommunenphilosophie doch Wurzeln in ihm geschlagen?

Marina Lewycka spannt den Bogen und legt die Hintergrundmechanismen der Geldwirtschaft offen. Sie zeigt, was die Immobilienkrise in Amerika mit dem Bankrott eines Maschinenbauunternehmens in England zu tun hat. Das eigentlich schwere Thema kommt dennoch federleicht daher, was vor allem an Lewyckas zielsicherem Blick für reizende Details liegt. Da sind die witzigen Parolen-T-Shirts von Doro (wie „Normal = Normiert“), die verrückten Vertreter der Kleingartenkommune „Gaga“, da sind putzige Kleintiere, die es nicht immer leicht haben, als unterstes Glied der Nahrungskette ihr Überleben zu sichern. Bemerkenswert ist auch, wie Lewycka in jedem Milieu den richtigen Ton trifft. Der harte, aber herzliche Arbeiterjargon landet ebenso seine Pointen wie die Aussprüche von Oulie-Anna, deren kindliches Gemüt die Sachlage oft erstaunlich genau auf den Punkt bringt.

Fazit: Marina Lewycka ist eine grandiose Beobachterin. Sie verknüpft die Finanzkrise mit den Idealen der 68ern und spielt diese in ihren wunderbar kuriosen Charakteren gegeneinander aus. Ein lesens- und liebenswertes Vergnügen.

Marina Lewycka: Die Werte der modernen Welt unter Berücksichtigung diverser Kleintiere.
dtv, März 2018.
464 Seiten, Taschenbuch, 10,95 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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