Majgull Axelsson: Dein Leben und meins

Auf dem Heimweg von Mumbai, wo ihre Tochter mit ihrer Familie wohnt, steigt die fast 70jährige Märit in Lund aus dem Zug. Über 50 Jahre war sie nicht in dieser Stadt gewesen. Es ist nicht so, dass sie das will, es ist vielmehr ein „zwingender Drang“, der sie antreibt. Eigentlich möchte sie nach Hause nach Stockholm. Allerdings ist unterwegs noch ein Abstecher in Norrköping eingeplant, um mit ihrem Zwillingsbruder Jonas, der nach einem Schlaganfall pflegebedürftig wurde, und dessen Frau Kajsa den runden Geburtstag zu feiern. Auch diesen Besuch macht Märit nicht ganz freiwillig: Kajsa, ihre ehemals beste Freundin, setzt sie unter Druck und möchte, dass die Geschwister, die sich ihr Leben lang nicht viel zu sagen hatten, auf ihre alten Tage versöhnen. Doch Märit gibt, wie so häufig, nach und sagt ihr Kommen zu.

Damit fordert sie den nächsten Streit mit „der Anderen“ heraus, die sie in ihrem Kopf immer dabei hat. Märit ist allerdings überzeugt davon, nicht verrückt zu sein, sie vermutet vielmehr, dass es sich bei der Anderen um die Stimme ihrer Schwester handelt, die bei der Drillingsgeburt gestorben war und deren Geist in sie hineingeschlüpft ist. Die Andere kommentiert Märits Gedanken und ihr Verhalten meist sarkastisch und giftig. Dabei hört sie die Andere nicht wirklich. Zu ihrer Psychologin hat Märit einmal über sie gesagt: „Das ist eher, als höre sie alles, was ich denke, und dann denkt sie genau das Gegenteil.“

Alle Versuche Märits, sich von der Anderen zu lösen sind bisher gescheitert und so fliegen häufig die Fetzen in ihrem Kopf.

An Lund haben beide schlechte Erinnerungen. Hier war ihr Bruder Lars – von vielen Idioten-Lars oder einfach nur Monster genannt – vor über 50 Jahren in einer Anstalt für behinderte Menschen untergebracht. Lars hatte deutliche autistische Züge, konnte sehr gut zeichnen, konnte aber auch aggressiv werden, wenn ihn etwas aus der Bahn warf. Genau das passierte, als seine von ihm heiß und innig geliebte Mutter starb. Er rastete aus und wurde in eine Anstalt gebracht. Von diesem Moment an wurde er in der Familie, die aus ständig streitenden Großeltern, einem liebevollen, aber überforderten Vater, und den zu dieser Zeit 14jährigen Zwillingen Märit und Jonas bestand, totgeschwiegen. Märit hatte Lars erst 1962 in der Anstalt Vipeholm in Lund wiedergefunden, als sie dort ihr Medizinstudium begann. In Lund kamen auch die Ereignisse ins Rollen, in deren Folge Märit – gemeinsam mit Kajsa – schwere Schuld auf sich geladen hatte und die ihr Leben prägen sollten. Auch hier kommt dem Schweigen eine große Bedeutung zu.

Der kurze Aufenthalt in Lund bringt auch dieses Mal wieder Bewegung in Märits Leben. Ihr wird klar, dass sie das Schweigen brechen will, dass sie auch mit Kajsa darüber sprechen muss, was damals geschah, damit sie mit den Geschehnissen endlich für sich abschließen kann. Doch das ist nicht einfach, denn „Kajsa glaubt nicht an die Macht des Wortes.“… „Kajsa glaubt an die Macht des Äußeren…“. Die Fassade muss stimmen. So hat auch Märit lange genug gelebt.

Was Märit Anfang der 1960er Jahre in Lund und zuhause in Norrköping erlebte, gibt der Majgull Axelssons neuester Roman „Dein Leben und meins“ erst nach und nach preis. So bleibt die Spannung bis zum Schluss erhalten. Märit erzählt ihre Geschichte selbst, blickt zurück und erinnert sich. Obwohl dabei tiefe Gefühle entstehen, bleibt die Sprache meist spröde und spiegelt so auch die Distanz, die die äußere Märit zur inneren hat. Man spürt – auch in den Streitgesprächen mit der Anderen – ihre zerrissene Persönlichkeit zwischen Wut und Nett-Sein, zwischen Überheblichkeit und Zweifel, zwischen Aufbegehren und Wegducken.

Auch die anderen Figuren sind vielschichtig und haben mit sehr menschlichen Problemen zu kämpfen.

Majgull Axelsson ist eine der erfolgreichsten Autorinnen Schwedens. Häufig hat sie sich in ihren Romanen schon mit gesellschaftlichen „Randgruppen“ auseinandergesetzt. Erschütternd sind in diesem Buch die Beschreibungen der Verhältnisse in den „Anstalten für Behinderte“ in den 1950er und 1960er Jahren. Fixierungen, gewaltsame Übergriffe und Lieblosigkeit waren damals an der Tagesordnung, auch medizinische Versuche an „Patienten“ waren in manchen Anstalten keine Seltenheit und wurden moralisch nicht weiter hinterfragt oder sogar positiv umgedeutet. Doch im Buch werden auch schon die ersten Schritte hin zu einer menschenwürdigen Behandlung von Menschen mit Behinderung angedeutet und sichtbar.

Insgesamt ist „Dein Leben und meins“ kein leichter Stoff, doch flüssig lesbar, spannend und mit klugen Gedanken durchsetzt, die auch dazu anregen, über das eigene Schweigen und die eigenen Geheimnisse nachzudenken.

Ich konnte den Roman, in der gelungenen Übersetzung von Christel Hildebrandt, kaum aus der Hand legen und kann ihn allen empfehlen, die gerne Bücher lesen, die ihre Spannung weniger aus der äußerlichen Action entfalten, sondern eher aus der Reflektion über das Geschehene und das eigene Verhalten.

Majgull Axelsson: Dein Leben und meins.
List, August 2018.
368 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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