Linda Winterberg: Die verlorene Schwester

2008: Anna lebt in Zürich und arbeitet als Investmentbankerin bei einer Schweizer Bank. Beruflich läuft es bei ihr gut, aber in ihren Beziehungen hat sie immer wieder Pech. Als ihre Mutter nach einem Unfall im Krankenhaus liegt und Anna im Arbeitszimmer ihres verstorbenen Vaters nach den Versicherungsunterlagen sucht, fällt ihr eine Adoptionsurkunde in die Hände. Sie ist schockiert. Warum haben ihr die Eltern nichts davon erzählt? Erklärt die Adoption das angespannte Verhältnis zwischen ihrer Mutter und ihr?

Anna ist hin- und hergerissen. Soll sie sich auf die Suche nach ihrer richtigen Mutter machen? Beistand findet sie bei der ruppigen und abgebrannten Journalistin Claudia. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg, die Geheimnisse der Vergangenheit zu lüften, werden dabei aber immer wieder von Annas Unentschlossenheit ausgebremst.

1968 in Bern: Als der Vater der Schwestern Lena und Marie stirbt, fällt ihre Mutter in eine tiefe Depression. Die Mädchen versorgen sich so gut sie können selbst und hoffen, dass es ihrer Mutter bald wieder besser geht. Doch in der Nachbarschaft beginnt das Getratsche und als es eines Tages an die Tür klopft, steht eine Mitarbeiterin der Fürsorge mit zwei Polizisten davor. Lena und Marie werden wegen der Gefahr der Verwahrlosung gewaltsam in ein Heim gebracht. Noch sind sie zusammen und geben die Hoffnung nicht auf, dass die Mutter sich aufrafft und sie wieder zu sich holt. Aber dann wird erst Marie, dann auch Lena als „Verdingkind“ einer Familie zugewiesen. Marie hat zunächst Glück: Eine Gärtnersfamilie nimmt sie gut auf und lässt sie in die Schule gehen, um ihren Abschluss zu machen. Bei Lena sieht es ganz anders aus. Sie muss auf einem Bauernhof schwerste Arbeit verrichten, wird misshandelt und missbraucht. Der Kontakt zu Marie wird ihr untersagt. Ihr einziger Lichtblick ist Rainett, die leicht geistig behinderte Tochter der Familie.

Die Geschichte begleitet Lena und Marie durch ihre Jugend Ende der 1960/Anfang der 1970er Jahre. Die Leserinnen (und vielleicht auch der ein oder andere Leser) erleben Freud und Leid, Liebe und Verzweiflung mit den Schwestern. Werden sich die beiden einmal wiedersehen?

Relativ schnell ist klar, dass Anna die Tochter von Marie oder Lena ist. Doch die Autorin Linda Winterberg erhält die Spannung bis zum Schluss mit unerwarteten Wendungen aufrecht. Der Roman hat mich berührt und wütend gemacht. Immer wieder musste ich mir vor Augen halten, dass die Geschichte von Marie und Lena vor 50 Jahren spielt und nicht vor 100 oder 150. Die Willkür und die Härte, mit der der Staat in der Schweiz Familien auseinandergerissen und Leben zerstört hat, lässt mich fast sprachlos zurück, denn auch wenn es sich um einen Roman handelt, basieren die Erlebnisse von Marie und Lena auf realen Fällen. „Erst im Jahr 2013 bat die Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga im Namen der Schweizer Regierung die ehemaligen Verdingkinder öffentlich um Entschuldigung für das begangene menschliche Unrecht“, schreibt Linda Winterberg in ihrem Nachwort.

Annas Geschichte schlägt eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart und macht deutlich, dass auch heute noch ehemalige Verdingkinder in der Schweiz leben. Die zwei Zeitebenen ergänzen sich so zu einem bewegenden Buch, das ich allen empfehlen kann, die gerne emotionale Romane mit historischem Hintergrund lesen.

Linda Winterberg: Die verlorene Schwester.
Aufbau Verlag, November 2018.
448 Seiten, Taschenbuch, 12,99 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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