Lesley Kara: Das Gerücht

Warnung: Sollten Sie dieses Buch vor dem Schlafengehen beginnen, dann wundern Sie sich nicht, wenn Sie nicht mehr in selbigen finden werden – zumindest nicht, bevor die letzte Seite dieses wendungsreichen Romans zu Ende gelesen ist. In ihrem literarischen Debüt „Das Gerücht“ schafft Autorin Lesley Kara haarsträubende Suspense auf zwei Ebenen. Erstens: Das klassische „Wer ist es“-Spiel? Zweitens: Die Faszination des Bösen, der wir alle bisweilen erliegen, auch wenn wir uns für Gutmenschen halten. Im konkreten Fall sind es Gerüchte, die uns verleiten, daran teilzunehmen. Selbst wenn die Folgen verheerend sein können. Es heißt nicht umsonst „Rufmord“. Der zweite Teil des Wortes wird zum Programm für diejenigen, die sich meist erst dann wehren und rechtfertigen können, wenn bereits alles zu spät ist. Oder wie Mark Twain sagte: „Eine Lüge ist um die halbe Welt gelaufen, während sich die Wahrheit noch die Schuhe anzieht.“

Dennoch können wir bisweilen alle nicht die Finger von diesem perfiden Spiel lassen. Warum auch immer. Um sich in den Mittelpunkt zu stellen, um von etwas Unangenehmen abzulenken, um der Gruppendynamik zu entsprechen oder weil von Unheilschwangerem durchaus eine gewisse Faszination ausgehen kann… die Gründe, warum die Protagonisten in diesem Roman zur Gerüchteküche beitragen, sind ganz unterschiedlich. Als Leser fühlen wir uns bisweilen ertappt, was für zusätzliche Gänsehaut sorgt. Zumal dieses Gerücht einen besonders ernsten Hintergrund hat: Eine ehemalige Kindermörderin soll sich in der Nachbarschaft niedergelassen haben!

Die Immobilienmaklerin Joanna ist ihrem Sohn zuliebe in ihre Heimatstadt Flinstead zurückgezogen. Das beschauliche Städtchen liegt an der englischen Küste, etwa eine Autostunde von London entfernt, wo Joanna die letzten 15 Jahre ihres Lebens verbracht hat. Als alleinerziehende Mutter eines Sechsjährigen erschien es ihr auf Dauer besser, auf dem Land in der Nähe ihrer Mutter zu wohnen, die ihr in vielen Punkten unter die Arme greifen kann. Joanna führt eine lockere Beziehung zum Vater des Kindes, dem Journalisten Michael, der ständig für Undercover-Reportagen auf Tour ist. Sowohl Joanna, als auch ihr Sohn Alfie leben sich nur schwer ein. Alfie wird aufgrund seiner Hautfarbe – sein Vater ist afroamerikanischen Ursprungs – von den Kindern gemieden, während Joanna mit den anderen, meist nicht berufstätigen Frauen, wenig anfangen kann. Um ihrem Sohn die Eingewöhnung zu erleichtern, versucht sie sich mit ein paar anderen Müttern anzufreunden. Hier kommt sie erstmals mit dem Gerücht in Kontakt, dass Sally McGowan unter falschen Namen durch ein Zeugenschutzprogramm in der Kleinstadt untergekommen sein soll. Sally hat im Alter von zehn Jahren einen fünfjährigen Jungen beim Spielen mit einem Messer ermordet. Das Ganze geschah im Jahr 1969 – niemand weiß, wo sie nach ihrer Entlassung gelandet ist und wie sie heute aussieht.

Fasziniert von dem Thema, recherchiert Joanna weiter in der Materie und lässt ihre eigene Fantasie durchgehen. Plötzlich kommen ihr alle möglichen Frauen in Flinstead verdächtig vor. Als sich Michael für den Fall zu interessieren beginnt und ihr ein paar Insiderinformationen zukommen lässt, nimmt das Unglück seinen Lauf. In einem unbedachten Moment lässt Joanna dieses Detail und eine Vermutung fallen, schon geht die Hexenjagd los. Schnell scheint die Übeltäterin gefunden zu sein, die fortan von ihrem Umfeld drangsaliert wird. Joanna hat schreckliche Schuldgefühle und versucht vergeblich, die Sache gerade zu biegen. Doch es kommt noch schlimmer. Die eigentliche ehemalige Sally McGowan hat es offenbar auf sie abgesehen. Joanna erhält Drohungen per Instagram, während ihr Sohn Alfie Opfer eines makabren Scherzes wird. Aus Rache, weil Joanna eine alte Geschichte neu aufgewirbelt hat? Was nun folgt ist ein faszinierendes Katz-und-Maus-Spiel innerer und äußerer Konflikte zwischen Wahn und Wirklichkeit, Vernunft und Verdächtigungen.

Lesley Kara baut immer wieder überraschende Wendungen ein, die uns die Protagonisten in völlig neuem Licht erscheinen lassen. Noch dazu stellt sie eine gewisse Nähe zur Täterin her, da diverse Kapitel mit Statements der wahren Sally McGowan eingeleitet werden, die miterleben muss, wie sich die Schlinge um ihren Hals immer mehr zusammenzieht. Wird sie wieder den Wohnort wechseln und sich eine neue Identität zulegen müssen? Gibt es die wahre Sally McGowan überhaupt noch? „Dann wache ich auf und die Geschichte hat sich verändert. Über Nacht sind Risse entstanden und mir wird klar, dass ich mir die ganze Zeit etwas vorgemacht habe, dass ich immer nur ein zerbrechliches Konstrukt gewesen bin. Ich bin die Gejagte.“

Lesley Kara hat einen spannungsgeladenen Pageturner geschaffen, der unter die Haut geht – so anziehend wie abschreckend zugleich. Wenn Kinder Kinder töten, handelt es sich um eines der unbegreiflichsten Verbrechen überhaupt. Twists und Turns, die Auflösung von Grenzen zwischen Gut und Böse, die Dynamik der Story, welche allen Beteiligten den Boden unter den Füßen wegzieht… wer das Buch einmal in der Hand hält, kann es nicht mehr weglegen. Noch dazu ist die Geschichte wirklich erst am Schluss zu Ende, im buchstäblich letzten Satz. Aufatmen können die Leser deshalb noch lange nicht…

Lesley Kara: Das Gerücht.
dtv, Februar 2020.
400 Seiten, Taschenbuch, 15,90 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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