Laura Cwiertnia: Auf der Straße heißen wir anders

Der Tod ihrer Großmutter ist für Karla eine Zäsur. Die hoch betagte Dame hat der Familie eine Liste mit Aufgaben übermittelt, welche hinsichtlich Begräbnis und Erbe zu erledigen sind. Zum ersten Mal erlebt Karla einen armenischen Gottesdienst, hört die alten Gebete und Lieder und fühlt sich angesprochen. Unter den zu verteilenden Wertsachen befindet sich ein Armband aus Gold. Auf dem Zettel mit dem Namen steht Lilit, dazu eine Adresse in Jerewan. Keiner in der Familie weiß mit dem Namen etwas anzufangen. Karla überredet ihren Vater, mit ihr nach Armenien zu reisen, um Lilit zu finden.

Die Geschichte des Armbandes spiegelt die Geschichte der Familie, welche wiederum eng mit der Geschichte des armenischen Volkes verbunden ist. Die Suche nach der unbekannten Erbin bringt Karla und ihren Vater in ein Land, welches beide noch nie betreten haben. Der Roman konfrontiert den Leser dabei mit einem dunklen Kapitel europäischer Geschichte.

Laura Cwiertnia lässt vier Generationen zu Wort kommen: Die Ich-Erzählerin Karla teilt ihre Erinnerungen an Großmutter Maryam, sie beschreibt ihre Eindrücke von den Begräbnisfeierlichkeiten und von der Reise. Dabei gewährt sie mir Einblicke in die Gepflogenheiten ihres Volkes.

Der Blick zurück erfolgt in der dritten Person.  In den Kapiteln über Karlotta erhalte ich eine Vorstellung von Karlas Kindheit zwischen armenischem Vater und deutscher Mutter. Eine Kindheit mit vielen Fragen und wenig Antworten, denn der Vater spricht nicht über seine Vergangenheit und die der Familie. Ich beginne zu verstehen, warum ihr die Reise nach Jerewan so wichtig ist.

Eingeschoben zwischen den Stationen der Reise erzählt Laura Cwiertnia dann von der leidvollen Vergangenheit des armenischen Volkes, vom Völkermord 1915, vom Alltag der verachteten armenischen Minderheit in der Türkei, vom Schicksal armenischer Gastarbeiter in Deutschland. Die Erinnerungen von Vater, Großmutter und Urgroßmutter thematisieren geschichtliche Ereignisse eingebettet in persönliches Erleben. Die Familienmitglieder eint zudem das Gefühl, am Rande zu stehen, ausgegrenzt zu sein.

Ich lerne Karla als unsichere junge Frau kennen, die irgendwie nirgendwo dazu gehört. In Deutschland gilt sie als Kind von Ausländern. Doch anders als die meisten Kinder in ihrer Situation ist sie nie in in den Ferien “nach Hause“ in die Türkei oder nach Armenien gefahren. Die Suche nach Lilit wird für sie zur Suche nach den eigenen Wurzeln. Im Land ihrer Vorfahren findet sie Fremdes und Vertrautes gleichermaßen. Fasziniert realisiert sie, dass sie sich in der Normalität des Alltags von Jerewan heimisch fühlt.

Zudem findet sie einen neuen Zugang zu ihrem Vater.  Der wiedergewonnene Zusammenhalt am Ende täuscht jedoch darüber hinweg, dass Karla genau genommen noch immer wenig über die Familiengeschichte weiß. Die Erinnerungen von Vater, Großmutter und Urgroßmutter kenne nur ich als Leser. Karla hat damit wenig zu tun, die Geschichten richten sich nicht an sie. Antworten auf ihre Fragen findet sie zum Teil im Museum über den armenischen Genozid. Hier stört mich ein bisschen der für mich spürbare didaktische Ansatz, möglichst effektiv Fakten über das Leiden des armenischen Volkes in individuellen Erlebnissen zu verpacken. Ich fühle mich belehrt.

Nichtsdestotrotz kann ich dieses Buch guten Gewissens empfehlen. Laura Cwiertnia gelingt es, Stimmungen und Empfindungen einzufangen. Mit wenigen Worten erschafft sie Bilder. Jede der Figuren hat ihre eigene Stimme und ich finde mühelos einen Zugang, kann in die Situation eintauchen. Dieses Buch hat meinen Horizont geweitet und mir den Blick in eine andere Kultur eröffnet, meine Neugier geweckt. Und es macht Appetit, auf Köfte und Baklava und andere Leckereien aus der Küche der Großmutter, die Karlas Erinnerungen maßgeblich bestimmen.

Für mich ist „Auf der Straße heißen wir anders“ in vielerlei Hinsicht ein gelungenes Debüt.

Laura Cwiertnia: Auf der Straße heißen wir anders.
Klett-Cotta, Februar 2022.
240 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.

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