Kit de Waal: Mein Name ist Leon

leonKit de Waal, britische Juristin mit irischer Mutter und karibischem Vater, legt mit „Mein Name ist Leon“ ihren ersten Roman vor. Für ihre Kurzgeschichten wurde sie zuvor mehrfach ausgezeichnet.

Das Debüt – erschienen bei Rowohlt POLARIS – verdient Aufmerksamkeit.
Leon, ein neunjähriger, dunkelhäutiger Junge, aus dessen Sicht Kit de Waal die Geschichte konsequent in Präsens schreibt, hat es richtig schwer: der Vater weg, die Mutter depressiv und der (Halb-) Bruder noch ein Baby. Leon kümmert sich so gut er kann um seine labile, kranke Mutter Carol und den gerade geborenen Jake, den er zunächst nur „das Baby“ nennt. Doch irgendwann bleibt Carol nur noch im Bett und Leon wächst seine Aufgabe über den Kopf. Carols Freundin Tina ruft das Sozialamt und von da an nehmen die Dinge für Leon, Carol und Jake ihren sozialbürokratischen Lauf. Das heißt, dass Leon und Jake zu einer Pflegemutter kommen, Carol ins Krankenhaus und dann in eine Therapie.   Und obwohl die Pflegemutter Maureen ein Glücksfall für die beiden Kinder ist, möchte Leon, dass alles wird wie zuvor.
Dann finden sich Adoptiveltern, aber nur für das Baby Jake, das, weil es einen anderen Vater hat als Leon, weiß und blond ist. Für Leon ist die Katastrophe perfekt.
Er passt sich scheinbar an, aber heimlich stiehlt er kleine Beträge aus herumliegenden Geldbörsen. Sein Ziel ist es, Jake und Carol zu finden und wieder als kleine Familie zusammen zu leben. Als Maureen mit einem Schlaganfall ausfällt und Leon zu Maureens Schwester Sylvia verfrachtet wird, verschärft sich Leons Ausnahmezustand weiter. Da schenkt ihm eine Sozialarbeiterin ein Fahrrad, und er macht die Bekanntschaft von Tufty, dem schwarz-gelben „Wespenmann“, der eine Parzelle im Schrebergarten besitzt ebenso wie Mr. Devlin, der in seiner Laube ein japanisches Messer und eine Pistole hat. Leon beginnt zu gärtnern und verfolgt dabei weiter unbeirrt sein sehnlichstes Ziel.

London, Anfang der 1980er Jahre: vor dem Hintergrund von Rassenunruhen und der Hochzeit von Lady Di und Prinz Charles lässt Kit de Waal Leon mit Rucksack und Fahrrad seine bittere Geschichte erleben. Ein kleiner Junge, der gerne „Ein Duke kommt selten allein“ im Fernsehen sieht und mit Action-Man-Figuren spielt, muss die Hauptverantwortung für die Familie übernehmen und kann nur scheitern.
Kit de Waal ist Anwältin für Straf- und Familienrecht und man merkt dem Roman ihr Insiderwissen positiv an. Die prekären Verhältnisse der alleinerziehenden, gnadenlos überforderten Carol, die Abwesenheit der Kindesväter, die Bürokratie in der Kinder- und Jugendhilfe und die unbedingte Loyalität zur Familie (egal wie schlecht die Situation dort ist) aus der Perspektive des Kindes Leon geschrieben, ist ein gewagter, aber in diesem Buch durchaus gelungener Erzählkniff. So wird dem Lesenden noch deutlicher, dass das erwachsene „gut Gemeinte“, nicht immer auch gut aus Kindessicht ist. Die tiefe Sehnsucht  und unbeirrbare Liebe des Neunjährigen nach bzw. zu seiner Mutter und seinem Bruder beschreibt de Waal so eindringlich, dass es schmerzt, so heißt es an einer Stelle des Buches:
Sie halten sich fest, und er spürt, wie sich ihre Brust hebt und senkt und ihre bebenden Schluchzer. Leon muss es ihr sagen. „Ich könnte er sein, Mum“, sagt er. „Du könntest mich abholen, und manchmal könnte ich dann er sein.“
Dabei sind die Erwachsenen gar nicht so übel, die meisten von ihnen wirklich und ernsthaft um Leon bemüht, nur Leon will seine kleine Familie zurück und fühlt sich von allen betrogen.
Mit einer Ausnahme: den Männern im Schrebergarten. Sie sind die einzigen, die nicht mit ihm umgehen, wie mit einem Kind.

Geschickt baut die Autorin die zunehmende Eskalation auf der Straße und die royalen Hochzeitsvorbereitungen in den Spannungsbogen um den jungen Protagonisten ein und führt den Plot zu einem doppelten Höhepunkt. Und „very british“: ein multikultureller Garten und das Gärtnern (das Säen, Wachsen und Gedeihen) schaffen die Aussicht auf Versöhnung und Hoffnung.

Mit dem tapferen und mutigen Leon hat Kit de Waal eine zuweilen nervige, aber durchweg sympathische Figur entwickelt, der der Lesende ganz fest die Daumen drückt für eine bessere Zukunft.

Kit de Waal hat ein empfehlenswertes Debüt abgeliefert, das so gut ist, dass der Hinweis auf ihren Schwager, den Keramikkünstler Edmund de Waal, im Klappentext zum Buch nicht nötig ist.

Kit de Waal: Mein Name ist Leon.
Rowohlt, Mai 2016.
320 Seiten, Taschenbuch, 14,99 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

Teilen Sie den Beitrag mit Ihren Freunden und Kontakten:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.