Kent Haruf: Ein Sohn der Stadt

Die beschauliche, fiktive Stadt Holt im Mittleren Westen der USA ist den Lesern von Kent Harufs Büchern längst bestens bekannt. Und wie könnte es anders sein – auch sein neuer Roman spielt in dieser typischen amerikanischen Provinzstadt, die möglicherweise unter einer anderen Ortsbezeichnung tatsächlich existent ist.

Jack Burdette war acht Jahre aus Holt verschwunden und taucht plötzlich wieder auf. Er parkt seinen roten Cadillac mitten in der Stadt und bleibt einfach darin sitzen. Niemand aus Holt hatte je damit gerechnet, dass er irgendwann freiwillig zurückkommen würde, nach all den Ungeheuerlichkeiten, die er angerichtet hat. Der Griff in die Kasse seines Arbeitgebers, die Schulden bei den Ladeninhabern der Geschäfte, in denen er sich vor seinem Verschwinden neu eingekleidet hat und obendrein ist da noch seine Familie, die er ohne jegliche Andeutungen verlassen hat. Bis nach Kalifornien hatte man seine Spur damals ergebnislos verfolgt. Es gibt in Holt niemanden mehr, der ihn in seinem Haus aufnehmen würde. Auch nicht seine Mutter und schon gar nicht seine Frau Jessie, die sich mit zwei Kindern durchschlagen musste und obendrein noch monatelang von den Bewohnern aus Holt traktiert worden war. Burdette, mittlerweile dick und schmuddelig geworden, braucht nicht lange in seinem protzigen Auto zu warten, bis der Sheriff ihm Handschellen anlegt und ihn abführt. Er leistet keinen Widerstand, offenbar weiß er, dass ihm nichts passieren wird, weil seine Straftaten verjährt sind.

Rückblickend erfahren die Leser nun vom Herausgeber der Wochenzeitung von Holt, Pat Arbuckle, wie Jack Burdettes Leben in der Stadt bis dahin verlaufen ist. Arbuckle kennt ihn seit der Kindheit, schließlich sind Arbuckle und Burdette zusammen aufgewachsen, zeitweise sogar irgendwie befreundet gewesen und auch nun, nach so vielen Jahren, gibt es etwas, das die Leben beider Männer schicksalhaft verbindet.

Jack Burdette war nicht mit übermäßiger Intelligenz ausgestattet und dennoch schien ihm alles zuzufliegen. Bevorteilt durch seine Größe wurde er zum gehypten Footballspieler, was ihm später einen Platz im College sicherte. So imposant massig wie seine körperliche Erscheinung war, so überzeugt war er innerlich selbst von sich, was sich in seinem ausgeprägten Egoismus spiegelte. Er war nicht nur die Sportskanone, er wurde zum Inbegriff von Coolness für die anderen seiner Altersklasse. Das begehrteste Mädchen Wanda Jo Evans war ihm so ergeben, dass sie sogar die Hausaufgaben für ihn schrieb. Die Highschool brach er irgendwann ab, aber später ergatterte er bei der Farmer-Kooperative in Holt einen guten Job. – Bis er sich davonstahl.

Kent Haruf lässt die Psyche seiner Figuren sprechen und zeigt nachdrücklich auf, wie es einer einzelnen Person gelingt, sich mit perfiden Schachzügen zu bevorteilen und die Gutmütigkeit anderer auszunutzen. Aber damit nicht genug. So unerwartet wie Jack Burdette aufgetaucht ist, verschwindet er auch wieder, doch diesmal nicht allein. Niemand weiß wohin und niemand kann seinen Opfern helfen. Mit dem offenen Ende verdeutlicht der Autor die Unberechenbarkeiten des Lebens und mancher Mitmenschen.

Kent Haruf ist ein Erzähler, in dessen Geschichten man gern eintaucht. Plot, Charaktere und Erzählstil – alles ist stimmig.

Kent Haruf: Ein Sohn der Stadt.
Aus dem Englischen übersetzt von pociao.
Diogenes, Oktober 2021.
288 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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