Karen Dionne: Die Rabentochter

Für Rachel, die Rabentochter, ist das Leben wie ein bitterböses Märchen. Mit nur einem Unterschied, alles um sie herum passiert nicht in der Fantasie. In der harten Realität wurden ihre Eltern getötet. Zu diesem Zeitpunkt war sie elf Jahre alt. Weil sie schwer traumatisiert ist, wird Rachel in der Psychiatrie behandelt. Keiner kann ihr helfen, ihre Erinnerungslücken zu schließen. Dies liegt unter anderem an Rachels Schuldgefühlen.

Nach fünfzehn Jahren lebt sie noch immer in der geschlossenen Psychiatrie. Vom Leben hat sie nicht viel gelernt, nur das, was sie zum Überleben zwischen psychisch Kranken braucht. Nach wie vor glaubt sie, am Tod ihrer Eltern schuld zu sein. Und sie glaubt, würde sie davon erzählen, hielten die Ärzte sie endgültig für verrückt. Aber so verrückt ist Rachel nicht. Sie schweigt mit der Gewissheit, das Leben in Unfreiheit zu verdienen. Es wäre die gerechte Strafe für ihre Schuld.

Rachels Alltag erfährt eine Wendung, als der Bruder ihres Freundes sie interviewt. Für sein Studium möchte er ihr Schicksal und den damit verbundenen alten Kriminalfall neu bearbeiten. Und ohne dass es Rachel für möglich hält, erfährt sie etwas Neues. Etwas, das sie aufrüttelt und den Mord ihrer Eltern anders aussehen lässt.

Viel zu schnell bringt sie die Spurensuche nach verdrängten Erinnerungen in eine tödliche Gefahr.

Karen Dionne hat in ihrem zweiten Psychothriller die Frauen im Fokus. Aus den Perspektiven von Rachel und ihrer Mutter Jenny baut sie zwei Erzählstränge auf, die sich auf todbringende Gefahren zubewegen. Während Jenny viele Warnungen ignoriert oder verharmlost, um ihre Tochter zu beschützen, erfährt Rachel über sich, früher viel zu viel erduldet zu haben. Nie hat sie sich gegen körperliche oder seelischer Gewalt gewehrt. Denn sie kannte nichts anderes und schwieg häufig in den falschen Momenten. Spannend und kurzweilig erzählen die beiden Frauen aus der Ich-Perspektive, wie sie allmählich die Wahrheit erkennen und das Böse in ihrem Umfeld begreifen, vor dem sie so lange die Augen verschlossen hielten.

Karen Dionnes Psychothriller, übersetzt von Andreas Jäger, baut eine steile Spannungskurve auf, die sich um zwei Fragen kreist: Wird Rachel sich rechtzeitig erinnern und überleben? Um die Unmittelbarkeit der Gefahren zu verstärken, erzählen beide Frauen im Präsens, als würde alles gerade geschehen. Im Erzählstil finden sich deshalb auch keine unnötigen Ausschmückungen. Jeder Satz geht direkt ins Ziel und lockt damit den Leser immer weiter in das Geschehen hinein.

Aus den Danksagungen der Autorin erfährt der Leser von einem Wettbewerb, bei dem die Teilnehmer die Chance erhielten, eine Figur in ihrem Roman zu werden. Die Verschmelzung von Fiktion und Realität kann man nicht schöner beschreiben.

Karen Dionne: Die Rabentochter.
Goldmann, November 2020.
352 Seiten, Taschenbuch, 13,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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