Kai Wieland: Zeit der Wildschweine

Reiseautor Leon ist ein Getriebener. Ständig muss er auf Achse sein, die Zeit zwischen einzelnen Ländern macht ihn unruhig. Sein neuester Auftrag lautet, einen Reiseführer über „Lost Places“ in Frankreich zu schreiben. Verlassene Hafenstädte, Industrieruinen, von der Geschichte vergessene Schicksale. Sein Begleiter ist Janko, ein zynischer Fotograf, den er beim Boxen kennengelernt hat. Doch die Reise verändert Leon. Er muss sich an ebenso faszinierenden wie düsteren Orten herumtreiben, um über die „vier V’s des Berufsmelancholikers“ – Verlust, Verfall, Verlassen, Vergessen – zu schreiben. Während der Reise werden Leon und Janko auch mit ihren eigenen „Lost Places“ konfrontiert.

Bei Leon ist dies seine schwäbische Heimat. Hier lebt seine Schwester Jana in geordneten Verhältnisse und sein Vater in einem Häuschen mit ebenso geordnetem Garten. Landidylle pur, der sich Leon nicht verbunden fühlt. Dies ist nicht seine Welt. Doch als der Vater darüber nachdenkt, sein Haus zu verkaufen, muss sich Leon mit seinen Wurzeln auseinandersetzen. Er willigt in den Vorschlag ein, die Bleibe zu tauschen: Der Vater zieht in Leons kleine Zweizimmer-Wohnung mit Aufzug, Leon zieht in das Haus aufs Land. Dort rückt ihm bald sein Nachbar Seibold auf die Pelle – notorisch neugierig, ordentlich, Jäger und Gartenkenner wie sein Vater. Als die Tomaten und Zucchinis verdorren und die Hecke Feuer fängt, wird klar: Leon ist mit der Verantwortung hoffnungslos überfordert.

Die Reise durch Frankreich entpuppt sich ebenfalls als Grenzerfahrung. Immer öfter gerät er mit Janko aneinander. Leon trifft auf faszinierende Menschen: verrückte Fischer, nixengleiche Surferinnen, sogar Statisten, die als Soldaten in dem Film „Dunkirk“ die Tragödie des Zweiten Weltkrieges aufleben lassen. Doch immer mehr verliert Leon den Faden. Er weiß nicht, was er schreiben soll. Er weiß nicht, ob sein Leben in die richtige Richtung geht. Am Ende weiß er nur, dass er sich seiner Vergangenheit stellen muss. Genauer gesagt, dem Tod der Mutter, auf der sich sein zweischneidiges Verhältnis zu seiner Heimat gründet. Mit ähnlichen Problemen kämpft auch Janko, dessen Wurzeln im Balkan liegen. Doch statt sich ihren Problemen zu stellen, versteigen sie sich in intellektuelle Machtkämpfe. Fotograf versus Schriftsteller. Wer hat den Durchblick?

Kai Wieland, gerade einmal 30 Jahre jung und im schwäbischen Backnang geboren, erhielt bereits für sein Erstlingswerk „Amerika“ Auszeichnungen wie den Taddäus-Troll-Preis und war einer der Finalisten des Alfred-Döblin-Preises. Auch in seinem zweiten Buch schafft er es wieder, sowohl die „schwäbischen Seele“ – stellvertretend für das Landleben als solches – als auch die Kluft zwischen Generationen sowie verschiedenen Lebensentwürfen in stimmige Bilder zu packen. Daneben positioniert sich der Autor als leidenschaftlicher Cineast. Kenntnisse über Filme wie „Fight Club“ oder „Dunkirk“ sind beim Lesen von Vorteil. Ganz nebenbei erfahren die Leser Hintergründe über Kriegsfotografen, Hemingways Kriegsleidenschaft und die Geschichte vergessener Orte.

Auch der Humor kommet nicht zu kurz. Allen voran sorgt Nachbar Seibold für kuriose Auftritte, aber auch selbstironische Betrachtungen regen zum Schmunzeln an. Problemlos schwankt der Autor zwischen verschiedenen Zeitebenen und Stimmungen. Letztlich muss Leon sich fragen, warum er nach „Lost Places“ auf der Welt sucht, wenn er sogar seine eigene Heimat vergessen hat. Er kann sich nicht mehr an die Geräusche des Waldes erinnern. Ein Wildschwein hat er noch nie in natura gesehen. Rührt seine Vorliebe für „aus der Zeit Gefallene“ vielleicht daher, dass er selbst nirgendwo verortet ist?

Fazit: Ein lebenskluger Roman, der Heimat und Aufbruch, Verantwortung und Selbstverwirklichung vielschichtig reflektiert. Der Plot ist von vielen, liebevoll ausgearbeiteten Charakteren bevölkert. Kinoliebhaber dürfen sich zudem auf zahlreiche Filmreferenzen freuen.

Kai Wieland: Zeit der Wildschweine.
Klett-Cotta, Juli 2020.
271 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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