Kai Wieland: Amerika

Die erste erschaffe, die zweite bewahre, die dritte zerstöre: Solcherlei Lektionen über den Generationenwandel erfährt ein junger Chronist, der mit vier Personen im „Schippen“ zusammensitzt. Der Treffpunkt im schwäbischen Dorf Rillingsbach hat wie der Ort seine besten Zeiten hinter sich. Er wurde vom Drei- zum Zweisternehotel über eine Vesperstube zur Kneipe heruntergewirtschaftet. Neben der Wirtin Martha, die nie aus dem Schwäbischen Wald herausgekommen ist, sitzen da noch Alfred, ein Amerikafan mit Faible für Kriegsfilme sowie der unbeliebte Frieder, der als Sohn des ehemaligen Oberscharführers auch nach dem Zweiten Weltkrieg gewisse Führungsansprüche für sich geltend gemacht hat. Alle drei sind über 80 Jahre alt. Sie sind Relikte in einem mittlerweile fast ausgestorbenen Ort. Jüngste im Bunde ist die wilde Hilde, immerhin erst 60 Jahre alt. Diese ist getreu dem Motto Sex, Drugs, Rock `n Roll mit amerikanischen GIs durch die Nächte gezogen. Während sie in Erinnerungen schwelgen, stößt der Chronist auf Ungereimtheiten und ein dunkles Geheimnis. Ein mysteriöser Todesfall scheint die Fronten im Dorf bis heute zu verhärten.

Kai Wieland ist ein außergewöhnliches Buch gelungen, das sich mehrerer großen Themen annimmt. Zunächst wirft der in Backnang geborene Autor einen tiefen, treffsicheren Blick in die schwäbische Seele. Sparsam, arbeitswütig, spießig soll sie sein – dabei handelt man doch aus Pflichtschuldigkeit gegenüber einem höheren Sinn für Ordnung heraus. Beim Lesen ist deutlich anzumerken, dass der Autor aus der Region stammt, er kennt die Eigenheiten ihrer Bewohner. Dennoch lassen sich Wielands Beobachtungen auch auf andere Dörfer in Deutschland übertragen, die nicht das Glück hatten, in den Fokus der Tourismusbranche oder in den Speckgürtel einer wachsenden Metropole geraten zu sein. Die Jugend ist schon längst fort. Umso wichtiger ist die Sicht eines jungen Chronisten auf einen Ort, wo keiner mehr hinschaut und hinwill. Kai Wieland legt ein wichtiges Zeitzeugnis ab, denn die da noch wohnen, werden von Jahr zu Jahr weniger.  Ab und an verirren sich ein paar wohlhabende Städter aufs Land, auf der Suche nach Ruhe und Grün. Doch für sie ist dies nur eine weitere Zwischenstation, aber keine Heimat.

Wenn sich der junge Chronist auf die Spuren der Heimatgeschichte macht, kann er den Zweiten Weltkrieg nicht ignorieren. Denn die Geschichte von Rillingsbach scheint in ein Davor und Danach gegliedert zu sein. Der Dorflehrer, ein überzeugter Nazi, wird seines Amtes enthoben, während der jähzornige Erwin völlig durchgedreht aus dem Krieg heimkehrt. Im Ort verbreitet er Angst und Schrecken. Doch eines Tages wird er tot in seinem Schuppen aufgefunden, ein Fall, an dem sich bis heute die Geister scheiden. Im Zuge der Entnazifizierung des Dorfes spielen die Amerikaner eine wichtige Rolle. Die Einstellung zur Besatzungsmacht ist gespalten. Während Erwins Witwe und Martha es genießen, ihren Horizont durch die mitgebrachte Literatur rund um Hemingway und Co zu erweitern, verbreiten andere Schreckensmeldungen über die weibstollen Neger.

Wie eine alles umfassende Klammer steht das Thema Erinnerungen über dem Erzählten. Zu Beginn jedes Kapitels hält Wieland neben Zitaten auch wissenschaftliche Erklärungen bereit. Was sind Rückschaufehler, wie funktionieren Pseudoerinnerungen? Verdrängung, Beschönigung, Dramatisierung – jeder der Dorfältesten hat eigene Methoden, die Bilder aus der Vergangenheit bewusst oder unbewusst zu verfälschen. Am Ende stellt sich die Frage, ob es dem Chronisten überhaupt gelingen kann, ein Zeitzeugnis abzulegen, denn wie zuverlässig sind Erinnerungen?

Kai Wieland hat ein wichtiges Werk geschaffen. Eine andere Art der Geschichtsaufarbeitung, die sich im Mikrokosmos eines Dorfes, in der fast schon kammerspielartigen Umgebung eines Tresens, wunderbar erzählen lässt. Er zeigt, wie Geschichte heute weiterlebt, wie Gemeinschaften funktionieren, wie Charaktere sich entwickeln oder stagnieren. Mit seinem Debüt „Amerika“ hat es Kai Wieland in die Endrunde des Blogbusters, dem Preis der Literaturblogger, geschafft. Das Thema kommt auch beim jungen, digitalen Publikum sehr gut an.

Ein beeindruckendes Buch eines hoffnungsvollen Talentes: Seitenweiser Nachschlag ist hier unbedingt erwünscht!

Kai Wieland: Amerika.
Klett-Cotta, August 2018.
208 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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Ein Kommentar zu “Kai Wieland: Amerika

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