Julian Fellowes: Belgravia

Julian Fellowes hat das angestaubte Genre der Adelsgeschichten so populär gemacht, dass sein „Downton Abbey“ im Guinessbuch der Rekorde landete, als „die von Kritikern am besten bewertete TV-Serie“. Wer seit dem Serienende unter Entzugserscheinungen leidet, kann aufatmen: In seinem Roman Belgravia verknüpft der britische Autor gekonnt Liebe und Intrigen mit geschichtlichen Ereignissen des 19. Jahrhunderts. Industriealisierung, Emanzipation und Klassenkampf lesen sich unglaublich spannend vor dem Hintergrund des nobelsten Londoner Stadtteils.

James Trenchard hat es geschafft. Vom Sohn eines Markthändlers hat er sich zum Baunternehmer emporgearbeitet. Doch ein Schatten liegt auf ihm: Seine Tochter Sophia hatte einst eine Affäre mit Edmund Bellias, dem einzigen Sohn und Erben von Lord Bellias, dessen Familie die Verbindung zu einer Kaufmannstochter nicht gutheißen wollte. Edmund fiel in der Schlacht bei Waterloo, ließ seine schwangere Geliebte zurück, die das Kind heimlich zur Welt brachte und bei der Geburt starb. James und seine Frau Anne übergaben den Jungen in die Obhut eines Pfarrers, um den Ruf der Familie zu wahren. 25 Jahre später beginnt sich ihr Enkel Charles Pope als Geschäftsmann in London zu etablieren. James möchte Charles fördern, das Geheimnis seiner Herkunft droht aufzufliegen. Anne und Lady Brockenhurst müssen notgedrungen zusammenarbeiten, um ihren Enkel vor Neid und Missgunst aus den eigenen Reihen zu schützen. Zudem verliebt sich Charles in die bezaubernde Maria, die ausgerechnet dem Neffen und zukünftigen Erben von Lord Bellias versprochen ist. Droht sich das Schicksal zu wiederholen?

Julian Fellowes, selbst Spross einer Adelsfamilie, gelingt es vortrefflich, den üppigen Prunk und die moralische Enge des Britischen Empire aufleben zu lassen. Weiterer Verdienst: Seine Charaktere wirken nie eindimensional. Auch die Antagonisten haben gute Gründe für ihr Handeln. Von der Zofe bis zur Countess – sie alle hadern mit dem Korsett der Konventionen. Der Zweitgeborene neidet dem Stammhalter den Titel, die Dienstboten sehen keine Chance zum Aufstieg und verdienen sich durch Spitzeldienste einen Sold hinzu. Frauen müssen erkennen, dass sich ihr Wert einzig durch ihren Ehemann bestimmt, weshalb eine „gute Partie“ ausschlaggebend ist. Seiner wirklichen Berufung nachgehen, die wahre Liebe finden – für die meisten bleibt dies unrealisierbar.

Wie schon bei „Downtown Abbey“ lässt Julian Fellowes Frauen als die wahren Strippenzieher agieren. Obwohl durch ihr Geschlecht zum Prestigeobjekt degradiert, haben sie gelernt, andere – und durchaus manipulative – Wege zu finden. Doch ihre Zeit wird kommen: Während Anne Trenchard versucht, den Ruin ihrer Familie durch die „gefallene Tochter“ abzuwenden,  fährt ihre Kutsche am Buckingham Palace vorbei, wo die 22-jährige Königin Victoria gerade Weltgeschichte schreibt…

Solche Szenen machen Belgravia zu einem literarischen Genuss. Figuren wie die scharfzüngige Lady Brockenhurst, die bei Downton Abbey-Fans Assoziationen zu der Countess of Grantham hervorrufen dürfte, haben großes Suchtpotenzial. Nach dem Lesegenuss bleibt ein wehmütiges Gefühl in der Brust zurück. Und dies liegt nicht an einem zu eng geschnürten Mieder!

Julian Fellowes: Belgravia.
Bertelsmann Verlag, November 2016.
448 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,99 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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