Judith Visser: Mein Leben als Sonntagskind

Jasmijn ist ein ganz normales Mädchen. Sie hat viele Freunde, eine Beziehung zu einem beliebten Jungen, einen Hund, der sie vergöttert, und alles im Leben fliegt ihr nur so zu. Zumindest die Normale Jasmijn. Die reale Jasmijn wird als schwieriges Kind bezeichnet, schottet sich ab und findet keinen Zugang zu Gleichaltrigen. Beziehungen sind für sie ein Albtraum und am liebsten verbringt sie die Zeit nur mit ihrer Hündin Senta. Erst als sie erwachsen ist, erhält Jasmijn die Diagnose Asperger-Syndrom. Doch bis dahin ist der Weg lang und steinig und sie muss ihre Kindheit und Pubertät ohne fremde Hilfe schaffen. Und die Normale Jasmijn ist nur eine Erfindung des kleinen Mädchens, eigentlich haben die beiden kaum etwas gemeinsam. Doch immer wieder denkt Jasmijn darüber nach, wie die Normale Jasmijn sich in bestimmten Situationen verhalten würde. Nur gelingt es ihr nicht, diese Dinge dann auch in die Tat umzusetzen.

Der Autorin Judith Visser erging es in ihrer eigenen Kindheit und Jugend ähnlich wie der Romanfigur Jasmijn. Sie erhielt erst im Erwachsenenalter die Diagnose Asperger-Syndrom – und das spürt man mit jeder Seite. Hier schreibt jemand, der weiß, worum es geht. Als ich den Roman gelesen habe, wusste ich noch nicht, dass auch die Autorin unter diesem Syndrom litt, man spürte es aber dennoch, dass sie zumindest einen familiären Bezug zu Autismus haben muss. Sehr feinfühlig beschreibt sie aus Jasmijns Perspektive eine Kindheit und Jugend in den Niederlanden, die geprägt ist von Enttäuschungen auf Seiten der Eltern und des Kindes. Judith Visser fängt dabei sehr prägnant die Stimmung ein und findet immer wieder Worte für Jasmijns Verzweiflung. Als Leser oder Leserin begleitet man sie vom Kindergarten bis zum Ende der Schulzeit und leidet ganz oft mit ihr. „Mein Leben als Sonntagskind“ ist ein sehr besonderer, berührender Roman!

Eigentlich möchte Jasmijn nur in Ruhe gelassen werden. Alles soll seinen gewohnten Gang nehmen, bitte nichts Unvorhergesehenes im Leben von Jasmijn. Allein im Kindergarten bleiben? Ohne ihre Hündin Senta? Und dann auch noch mit den anderen laut umherbrüllenden Kindern spielen? Undenkbar! Jasmijn ist, so jung sie auch noch sein mag, verzweifelt und versteht die Welt nicht mehr. Die Autorin beweist ein Händchen für all diese kleinen Stimmungsmomente und fängt einen jeden in kurzen, prägnanten Kapiteln ein. „Mein Leben als Sonntagskind“ ist mehr als lesenswert. Der Roman ist mit das Beste, was ich bisher über autistische Menschen gelesen habe. Unterhaltsam, einfühlsam und mit einem Gespür für Zwischentöne. Alle Daumen nach oben für Judith Visser!

Judith Visser: Mein Leben als Sonntagskind.
HarperCollins, Mai 2019.
608 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Janine Gimbel.

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