Joris-Karl Huysmans: Lourdes: Mystik und Massen (1906)

1906 veröffentlichte Joris-Karl Huysmans (1848-1907) seinen Erfahrungsbericht über den berühmten Wallfahrtsort Lourdes, wo Pilger und Kranke um Wunder und -heilung beten. Über zwei Jahre widmete er sich dem Thema Mystik und Massen und begann mit der Außensicht. Er schaute dabei so genau hin, dass auch der Kunstkritiker in ihm zu Wort kommen musste. „In Lourdes herrscht ein derartiges Übermaß an Banalität, ein solcher Blutsturz des schlechten Geschmacks, dass sich zwangsläufig der Gedanke an einen Einfluss aus den tiefen der Hölle aufdrängt.“ (S. 78) Zur künstlerischen Gestaltung der Basilika schreibt er: „… Es handelt sich tatsächlich nicht um einen Mangel an Talent, sondern es fehlen das ABC und die Grundlagen, und es handelt sich hier um die absolute handwerkliche Unfähigkeit gesteigert durch die infantile Sentimentalität des Arbeiters aus katholischem Umfeld, der einen im Tee hat!“ (S. 81)

Bekannt wurde der Autor über seine Romane und Literaturkritik. Sein Hauptwerk beschäftigt sich mit der Dekadenz, die unweigerlich auch in seinem Bericht mitschwingt. Die Natur des Menschen im Allgemeinen und die des Kritikers stoßen frontal aufeinander: „Niemand glaubt mehr an die Redlichkeit der Politiker, …, an die Unabhängigkeit der Justiz. … Es herrscht momentan eine Art Malaria der Respektlosigkeit, und niemand kann sich dieser Infektion der Seele entziehen, jeden hat sie mehr oder weniger infiziert, denn niemand kann den Einflüssen seiner Zeit entkommen …“ (S. 183)

In verschiedenen Kapiteln arbeitet sich der Autor durch die Themen Religion,  Wunderheilung sowie die Begleitumstände der Pilgeranstürme. Vieles missfällt ihm und findet Eingang in seinen Beschreibungen, meist mit dem abschließenden Ausrufezeichen. Huysmans zetert, kritisiert, staunt, schimpft, lästert, wundert sich, denkt analysierend über das Phänomen Lourdes nach.

Systematisch befragt er Betroffene, bis seine Vorstellung vom stillen Gebet am heiligen Ort vom Ansturm zigtausender Pilger oder der Großmannssucht der Kirche pulverisiert wird. Denn der Verkaufsschlager Mythen zog die Massen so massiv an, als gäbe es kein Morgen. Im quirligen Gewühl in der Sakristei zu beichten und wie an einem Fließband abgefertigt zu werden; das Bad in der Menge vor dem Bad in der heiligen Quelle sind nur wenige Beispiele für die Abkehr zur inneren Einkehr.

Huysmans beschreibt plastisch und drastisch, wie der stetige Strom aus feierwütigen Pilgern Lourdes flutet, in dem 1903 etwa 9000 Einwohner lebten und ihn auch durch seine Überzahl zu seiner Geisel macht. In dem geschäftstüchtigen Klima, im Egoismus und inszenierten Glauben geschehen dann zu seiner Verwunderung trotzdem Wunder. Nur mit Mühe können die aufgeregten Zeugen davon abgehalten werden, den soeben Geheilten nicht sofort in Souvenir taugliche Fetzen zu reißen.

Insgesamt ist ein subjektiver Bericht eines Zeitzeugen entstanden, den man als offenherzig und emotional bezeichnen darf. Allein in seiner gewählten Sprache hält er sich an Konventionen. Hartmut Sommer übersetzte dieses Werk und schrieb hierzu ein Nachwort.

Das Geschäft mit den Massen wirkt auch noch heute, wenn Tausende von Fans ihrem »Star« huldigen. Blickt man als interessierter Leser und Literaturliebhaber durch Joris-Karl Huysmans Zeitfenster, findet man vieles, das bis in die heutige Zeit reicht. Ob einen emotionalen Ausrutscher in den Antisemitismus oder das Geschäft mit den Massen, es scheint Dinge zu geben, die sich einfach nicht ändern wollen.

Zusammenfassend eröffnen die schön beschriebenen Ereignisse und die persönliche Bewertung durch den Autoren neue Perspektiven. Mal schüttelt es einen im Hinblick auf die hygienischen Zustände, mal ist man amüsiert, verwundert oder auch gut unterhalten und ausführlich informiert.

Ein Ereignis bleibt besonders im Gedächtnis haften: Als eine sterbende Nonne die Gnade der Heilung erfuhr, zeigte sie keine Freude. Seit einer Weile waren ihre Gedanken schon im Jenseits bei Gott, und sie kommentierte völlig selbstlos ihr wundersames Überleben mit den Worten, die Oberin würde sich freuen.

Joris-Karl Huysmans: Lourdes: Mystik und Massen.
Lilienfeld Verlag, Mai 2020.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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