Jonathan Lee: Der große Fehler

Am Freitag, dem 13. November 1903, wird Andrew Haswell Green im Alter von 83 Jahren vor der Tür seines Wohnhauses in der New Yorker Park Avenue niedergeschossen. Sein Mörder wird am Ort des Geschehens dingfest gemacht, das Motiv der Tat bleibt jedoch unverständlich.

Jonathan Lee, gebürtig in England, aber inzwischen in New York lebend, hat in seinem Roman einen historisch verbürgten Kriminalfall aufgegriffen. Andrew Green war zu seiner Zeit eine angesehene Persönlichkeit von New York. Er gilt als der Vater von Greater New York, weil er einer der treibenden Kräfte beim Zusammenschluss von Brooklyn und Manhatten war. Auf seine Initiative geht der Central Park zurück und zudem mehrere bedeutende Gebäude – die New York Public Library, der Bronx-Zoo, das American Museum of Natural History oder auch das Metropolitan Museum of Art. Heute ist er weitgehend in Vergessenheit geraten. Grund genug, ihm ein Buch zu widmen.

Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist der letzte Tag im Leben des Andrew Green, der Tag seiner Ermordung. Von hier aus beschreibt Lee die Ermittlungsarbeit von Inspector McClusky, der auf der Suche nach dem Motiv für die Tat so manches verwirrende Gespräch führen muss.

Zugleich beschreibt er das spannende Leben seines Protagonisten von Kindheit und Jugend auf einer Farm in der Nähe Worcester/Massachusetts bis hin zu seiner Arbeit als Mitglied bzw. Vorsitzendem wichtiger städtischer Kommissionen in New York. Bei den Recherchen zum Buch hat Lee bisher unveröffentlichte Briefe und Tagebücher Greens genutzt und Gerichtsakten und Zeitungsberichte studiert. Man merkt dem Buch an, dass er sich intensiv mit Lebenswirklichkeit und Gedankenwelt der Figuren beschäftigt hat.

Mir gefällt, dass Lee seinen Figuren Raum gibt, ihnen mit freundlichem Interesse bei ihren täglichen Geschäften zusieht. Ich erlebe den jungen unsicheren Andrew Green, der vom Aufstieg träumt und sich nach Liebe und Anerkennung sehnt. Später den Mann, der gelernt hat, seine Unsicherheit zu überspielen. Vor allem aber erlebe ich einen Mann, der seine Liebe zu seinem besten Freund nicht ausleben konnte, weil er damit seine Projekte gefährdet hätte.

Auch alle weiteren Figuren – die Haushälterin Mrs. Bray, Inspektor McClusky oder die Edelprostituierte Bessie Davis – bekommen ihre Bühne. Dem Autor gelingt es, die historischen Fakten in lebendige Geschichte umzuwandeln. Lees Sprache lässt Bilder entstehen, er schreibt genau und mit feinem Humor.

Heute erinnert eine Marmorbank in einem versteckten Winkel des Central Parks an Andrew Haswell Green, einen Mann, der öffentliches über privates Interesse stellte, Gemeinwohl über Egoismus und langfristige Lösungen kurzfristigen Erfolgen vorzog. Der sich Zeit seines Lebens für öffentlich zugängliche Bildung eingesetzt hat. Es bleibt zu hoffen, dass Jonathan Lees gelungene Hommage die Erinnerung an den Menschen, von dem sich mancher Politiker eine dicke Scheibe abschneiden könnte, wieder aufleben lässt.

Jonathan Lee: Der große Fehler.
Aus dem Englischen übersetzt von Werner Löcher-Lawrence.
Diogenes, März 2022.
368 Seiten, Gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.

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