Jeroen Olyslaegers: Weil der Mensch erbärmlich ist

Einen Brief an seinen fiktiven Urenkel lässt der belgische Autor Jeroen Olyslaegers  den über 90 Jahre alten Wilfried Wils schreiben. Darin geht es vor allem um Wils‘ Erlebnisse in der Zeit, als Belgien von den Nazis besetzt war. In einer Stadt, die zwar nie benannt, aber mit der wohl Antwerpen gemeint ist, dient Wils Anfang der 1940er-Jahre als Hilfspolizist und findet sich zwischen allen Stühlen wieder: Auf der einen Seite muss er den neuen Machthabern dabei helfen, Juden zu verhaften und abzuführen, andererseits unterstützt er seinen Freund Lode, der im Keller einen der Verfolgten versteckt.

​Der Roman stellt die Frage nach Schuld und Mitverantwortung für die Nazi-Gräuel durch Mitläufer wie unseren Helden. Hätte der damals 20-Jährige sich widersetzen können und sollen? Hätte er seinen Job kündigen müssen, in dem er den Nazis sehr nahe kam, obwohl er der einzige Ernährer der Familie war? Ist man feige, wenn man nicht den Helden markiert?

Der deutsche Titel „Weil der Mensch erbärmlich ist“, der auf dem Cover durchgestrichen ist, gibt eine Deutung vor, die der Text selbst nicht hergibt. Der neutralere Originaltitel „Wil“ wäre passender gewesen.

Empfehlenswert ist das Buch nicht nur wegen seiner ethisch-moralischen Fragestellungen, sondern vor allem wegen seines sprachlichen Stils. Und: Jede Zeile des 1967 geborenen Autors wirkt wahr, ehrlich und nachvollziehbar.

​Neben dem Nazi-Thema erfährt der Leser außerdem, wie es in einer belgischen Familie vor über 70 Jahren zuging – und das dürfte nicht nur für Belgien gelten: Hatte man eine Freundin, war es vollkommen unmöglich, sich mit ihr allein auf deren Zimmer aufzuhalten. Man hatte sonntags zum Mittagessen bei der Familie der Freundin zu erscheinen und musste den Smalltalk mit dem Vater über sich ergehen lassen. Abschnitte über solche Themen geben dem Buch auch humorvolle Stellen.

Jeroen Olyslaegers: Weil der Mensch erbärmlich ist.
DuMont Buchverlag, Juli 2018.
368 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Andreas Schröter.

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Ein Kommentar zu “Jeroen Olyslaegers: Weil der Mensch erbärmlich ist

  1. Kann ich ganz sicher verneinen, dass man mich, 1920 in eine national-konservative Umgebung hineingeboren, nach 1945 als Kriegsverbrecher verurteilt hätte?
    Keine Ahnung, ich hole mir das Buch, danke für diese Rezension.
    Hannes Wille

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