Jeong Yu-Jeong: Der gute Sohn

Als Yu-jin morgens blutbesudelt erwacht und seine Mutter mit aufgeschnittener Kehle in der Nähe findet, glaubt er, der Mörder zu sein. Alles spricht gegen ihn. Dummerweise hat er an die letzte Nacht keine eindeutigen Erinnerungen. Dies liegt unter anderem an den Entzugserscheinungen der heimlich abgesetzten Medizin. Die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmen. Kostbare Zeit vergeht, bis er den Schock überwunden hat. Und allmählich begreift er, dass die Polizei nur das Augenscheinliche ermitteln wird. Seine Pflicht als guter Sohn verlangt jedoch, die ganze Wahrheit herauszufinden. Leider erweist sich dies als sehr schwierig. Denn Hae-jin, sein Ziehbruder, wird bald kommen.

Yu-jin versteckt den Leichnam und putzt, so gut es geht, die verdächtigen Spuren weg. Viel zu früh steht Hae-jin in der gemeinsamen Wohnung. Wie von Yu-jin befürchtet, hinterfragt der Ziehbruder Mutters Abwesenheit. Er wird immer neugieriger und skeptischer. Auch die Tante, die zugleich Yu-jins behandelnde Ärztin ist, fragt hartnäckig nach.

Der gute Sohn sucht weiter nach der Wahrheit und läuft nicht weg. Gleichzeitig läuft ihm unaufhaltsam die Zeit davon.

Jeong Yu-Jeong wird »Koreas Stephen King« genannt. Ihre psychologisch ausgearbeiteten Kriminalromane haben der Autorin in der Vergangenheit Preise und Spitzenplätze in den Bestsellerlisten beschert. In ihrem Thriller Der gute Sohn, übersetzt aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel, berichtet der Ich-Erzähler Yu-jin, wie er innerhalb weniger Tage sein komplettes Leben in Frage stellt. Entstanden ist ein Kammerstück, in dem alles möglich sein kann.

Die Autorin schreibt in ihrem Nachwort, sie möchte dem Leser die Geburt eines Dämons und seine Entwicklung zum Monster vor Augen führen. Er soll zugleich einen Verbrecher »… beim Lesen anfassen, riechen, sehen und fühlen können.« (S. 315) Dies ist ihr gelungen. Gnadenlos treibt sie ihr Monster in eine Ausweglosigkeit, damit das bisher normale, unscheinbare Leben unmöglich wird. In ihrer Geschichte ist das »Böse im Menschen« durch eine natürliche Gewissenlosigkeit und dem Fehlen von Schuldgefühlen definiert.

Für Europäer ist die Wahrung des Gesichts inzwischen ein Begriff geworden. Ein freundliches Gesicht, eine glatte Fassade sollen den äußeren Schein sowohl für Familienmitglieder als auch Außenstehende erhalten. Dahinter verborgen brodelt Konfliktpotenzial. Sowohl Yu-jin als auch die ihn seit fünfundzwanzig Jahren drangsalierende Mutter arbeiten an ihrer vorbildlichen Fassade. Letztendlich zählt nur, wer stärker ist und über die besseren Nerven verfügt. Während Yu-jin akribisch auf Wahrheitssuche und Vertuschung hinarbeitet, bröckeln die unterschiedlichsten Fassaden. Dahinter werden erneut poröse Fassaden sichtbar. Nichts ist, wie es scheint. Die koreanische Antwort auf Gewalt und Grusel hat ihre ganz eigene Note, die einfach nur überrascht.

Jeong Yu-jeong: Der gute Sohn.
Unionsverlag, Januar 2019.
320 Seiten, Taschenbuch, 19,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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