Jane Gardam: Ein untadeliger Mann

Reinweiße Fingernägel, glänzendes Schuhwerk, viktorianisches Seidentuch in der Brusttasche: Edward Feathers ist „sagenhaft sauber“ und verströmt noch im 21. Jahrhundert die Eleganz des Empire herauf. Als Anwalt Old Filth (failed in London, try Hong Kong) hat er in Fernost Karriere gemacht. Doch nach dem Tod seiner Frau Betty bricht sein tadelloses Leben auseinander. In Rückblenden wird das Bild eines Mannes erzählt, der Perfektionismus als Schutzschild gegen seine schrecklichen Kindheitserlebnisse als „Raj Waise“ kultiviert hat. In unvergleichlich britischer Manier schafft es Jane Gardam, Tragik, Komik, Weisheit und Menschlichkeit miteinander zu verknüpfen. Elegant beschwört sie die Ära der Britischen Kolonialzeit herauf, die uns noch heute so verstört wie fasziniert.

In den noblen Räumen des Londoner „Inner Temple“ diskutieren hochrangige Richter und Anwälte über Old Filth. In dessen Leben habe es nie einen Fehlgriff gegeben. Es sei immer alles glatt gelaufen. Damit könnten sie kaum mehr danebenliegen, wie nach der Lektüre dieses Romans klar wird. Denn Edwards Mutter stirbt in Malaysia bei der Geburt, er wächst bei den Einheimischen auf – seine glücklichste Zeit – bis er von seinem Vater nach England geschickt wird, wo er eine angemessene Ausbildung erhalten soll. Die Pflegefamilie entwickelt sich zum Alptraum, auch im Internat fasst Edward keine Wurzeln, dazu gerät er in die Wirren des Zweiten Weltkrieges. Ein Trauma durchzieht sein Leben wie ein roter Faden: Alle Menschen, die ihm nahestehen, verlassen ihn oder werden ihm entrissen. Bis auf Betty. Doch hier lauert ebenfalls mancher Schatten hinter den glänzenden Perlen. Ist ihre Kinderlosigkeit so gewollt, wie sie behaupten? Und ist Betty ihrem Mann wirklich treu?

In der Upperclass von England werden Affären nicht nur unter den Tisch gekehrt, sondern im Tulpenbeet vergraben. Genau dort, wo Betty vom Exitus überrascht wird. Dies ist nur eine der vielen hintersinnig-doppelbödigen Details, derer wir uns beim Lesen erfreuen.

In punkto Dramaturgie bedient sich die Autorin eines Kunstgriffs. Dreh- und Wendepunkt ist Bettys Tod. Ein Handlungsstrang geht zurück in die Vergangenheit und zeigt, warum Old Filth zu einem Inbegriff der Selbstbeherrschung geworden ist – oder vielmehr: werden musste. Ohne Tadel, aber scheinbar ohne Emotionen. Der andere Handlungsstrang weist in die Zukunft und zeigt, was passiert, wenn Edward Feathers seine Selbstbeherrschung aufgibt. Er versöhnt sich mit einem alten Feind, fährt erstmals alleine (und viel zu langsam) auf der Autobahn, sucht Kontakt zu Personen, mit denen es noch Geschichten zu bereinigen gibt. Dies liest sich wunderbar rührend und unterhaltsam. Vieles, was über Kapitel sachte angedeutet oder ausgeblendet wurde, ergibt nun Sinn.

Völlig zu Recht wurde Jane Gardam mit „Old Filth“ als neues Wunderkind der britischen Literaturszene gefeiert. Obwohl der Begriff Kind bei einer fast 90-jährigen (!) Autorin nicht ganz passend erscheint. Sie ist Witwe eines Richters und so wie Old Filth erst spät zur Einsicht kam, schrieb Gardam mit 40 Jahren ihr erstes Buch. Mittlerweile gibt es über 30 davon, diverse Literaturpreise, einen OBE-Titel (Officer of the Order of the British Empire). Old Filth ist übrigens der Auftakt zu einer Trilogie. Bleibt zu hoffen, dass die Schaffenskraft der Autorin noch lange erhalten bleibt. Die Chancen stehen gut: Denn die hochrangigen Damen auf der Britischen Insel glänzen mit Produktivität bis ins hohe Alter. In diesem Sinne: God save the queen!

Jane Gardam: Ein untadeliger Mann.
dtv, Mai 2017.
352 Seiten, Taschenbuch, 12,90 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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