Inès Bayard: Scham

Was für ein Buch! Wäre es ein Kinofilm, würde er mit FSK 18 eingeordnet, vermutlich. Schon der Beginn ist ein heftiger Schlag in die Magengrube.

Der Roman von Inès Bayard, geboren 1992, erschien in Frankreich 2018. Geschrieben wurde er also wahrscheinlich zu oder kurz nach dem Beginn der #MeToo-Bewegung. In ihrem Debütroman schildert die Autorin in teils drastischen Worten und in teils extrem plastischen Bildern, was eine Vergewaltigung mit dem Opfer macht.

Marie, gutaussehend, jung, glücklich verheiratet, erfolgreich im Beruf wird von ihrem Chef im Auto brutal vergewaltigt. Inès Bayard erspart der Leserin hier nichts. Brutal heißt brutal auch in der Beschreibung des Vorgangs.

Danach ist für sie nichts mehr wie vorher. Ihr Vergewaltiger droht ihr, sie und ihren Mann Laurent zu zerstören, wenn sie davon erzählt. Aber vermutlich hätte sie dies ohnehin nicht getan. Marie ist wie paralysiert, sie erzählt tatsächlich niemandem davon, nicht ihrer Familie, nicht ihrem Mann. Marie redet sich vergeblich ein, dass die Schande, die sie empfände, wenn sie ihrem Mann die Wahrheit sagen würde, sicherlich nur ein kleines Opfer im Gegenzug für ihre Freiheit wäre, am Ende fügt sie sich doch immer der Lüge, wohl wissend, dass sie sich damit selbst täuscht und zerstört. (S. 58). Sie erträgt auch die sexuelle Bedürfnisse ihres Mannes, lässt alles über sich ergehen. Er merkt nichts, ihm fällt ihre Veränderung nicht auf.

Und es kommt noch schlimmer: Marie ist schwanger. Sie ist sofort überzeugt, dass das Kind von ihrem Vergewaltiger ist und nicht von ihrem Mann. Sie versteinert noch mehr, unterdrückt alle Gefühle, will das Kind nicht. Da ihr Gynäkologe gleichzeitig der beste Freund ihres Mannes ist, kann auch er ihr nicht helfen. Sie tut alles, die Schwangerschaft abzubrechen, bewusst und unbewusst. Doch sie trägt das Kind aus und bringt einen Jungen zur Welt.

Marie kann für den Säugling keine Gefühle aufbringen, sie wird ihn vernachlässigen, sie lässt ihn hungern, wickelt und pflegt ihn nicht. Sie vernachlässigt sich auch selbst, hasst ihren Körper, ihre durch die Schwangerschaft bedingte erhebliche Gewichtszunahme. Die Protagonistin durchlebt die innere Hölle, sie richtet sich selbst und sie richtet über die Männer und deren Triebe.

Als ihr Mann, ein erfolgreicher Anwalt, in einer Scheidungssache einen Mandanten vertritt, der beschuldigt wird, eine Minderjährige vergewaltigt zu haben – und dies gegenüber Laurent auch zugibt – verliert Marie die Fassung. Doch noch immer gibt sie Laurent keine Erklärung für ihre Veränderung, für ihr Verhalten.

Am Ende gehen an den Folgen der Gewalttat alle zugrunde.

Diesem Roman muss man sich stellen. Man muss ihn aushalten. Was an manchen Stellen durchaus schwerfällt. Manche Szene, manch eine Schilderung hätte ich gerne überlesen, mir erspart. Wenn die Autorin im Wortsinn hautnah beschreibt, wie Marie ihr Kind würgt, ihm den Hals zudrückt und es am Ende doch nicht fertigbringt, dann fühlt es sich an, als wäre man dabei, als stünde man daneben und könne doch nicht eingreifen.

Inès Bayard hat einen ganz eigenen, faszinierenden Schreibstil. Ihre herbe Sprache, ihre Wortwahl, Rhythmus und Melodie der Sätze sind perfektes Mittel für die Darstellung des Zerbrechens und des Verfalls von Marie. Jedes einzelne Wort geht wahrhaftig unter die Haut. Insbesondere beeindruckt mich, dass es der Autorin gelingt, jedes Klischee zu vermeiden. All die Bilder, die uns in der Regel gezeigt werden, um Leid und Verfassung eines Vergewaltigungsopfers darzustellen, erspart sie der Leserin. Sie verwendet keine Weichzeichner, sie zeigt harte, scharfe und deswegen umso verstörendere Bilder. Ein großes Lob an die Übersetzerin Theresa Benkert, die diesen besonderen Stil durchgehalten hat.

Der deutsche Titel kann allerdings falsche Erwartungen wecken. Denn Maries vordringlichstes Gefühl aus meiner Sicht ist nicht Scham, sondern unbändige Wut. Auch sie prüft natürlich sich selbst, inwieweit sie Schuld trägt an dem, was ihr geschehen ist. Hat sie den Vergewaltiger provoziert, animiert, ihn erregt? Doch das ist nicht die Frage, die sie zermürbt und letztlich vernichtet. Was Marie von innen zerfrisst ist vor allem ihre Wut, auf die Männer und auf die Welt, die solche Männer hervorbringt und schützt.

Sie ist zerrissen zwischen Lüge und Wut, ihrer Scham über ihre Lügen und ihre Wut über ihre Scham.

Ein Buch, das man lesen sollte, für das man sich aber wappnen muss.

Inès Bayard: Scham.
Paul Zsolnay Verlag, Februar 2020.
224 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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