Ian McEwan: Lektionen

Der britische Schriftsteller Ian McEwan (Jahrgang 1948) und Booker-Prize-Träger von 1998 (für „Amsterdam“)  schreibt Bestseller. Nun ist am 28. September 2022 sein neuester Roman mit autobiografischen Elementen im Diogenes Verlag erschienen. Das Buch mit dem deutschen Titel „Lektionen“ wurde von Bernhard Robben aus dem Englischen übersetzt.

Ian McEwans Protagonist Roland Baines ist wie er 1948 als Sohn eines Offiziers der britischen Armee geboren und in Libyen aufgewachsen. Mit elf Jahren wird Roland von seinen Eltern auf ein Internat in England geschickt. Dort erhält er Klavierstunden von Miss Miriam Cornell, die den Jungen verführt und missbraucht.

Im Frühjahr 1986 verschwindet Rolands deutsche Frau Alissa und lässt ihn mit dem gemeinsamen Baby Lawrence in London zurück. Roland schlägt sich mehr schlecht als recht mit dem Sohn durch das Leben. Er arbeitet als Barpianist, Tennislehrer und Gelegenheitsschreiber. Seine Freundin Daphne und ihr Mann Peter unterstützen ihn. Alissa, die wieder ihren Geburtsnamen Eberhardt annimmt, wird eine berühmte Schriftstellerin und lehnt den Kontakt zu Roland und Lawrence ab. Für Lawrence ist er ein guter Vater, die Beziehung zwischen den beiden ist fest und innig. Aber Roland trägt lebenslang an der frühen Beziehung zu seiner Klavierlehrerin. Irgendwann besucht er Alissa in Deutschland und auch Miriam Cornell. Roland erfährt von seinem älteren Bruder Robert. Er heiratet Daphne und erlebt ein kurzes Glück.

Ian McEwan spannt Roland Baines Leben von den 1950er Jahren bis ins Jahr 2021. Dabei lässt er seine Figur die historischen Weltereignisse unserer Zeit erleben: Kubakrise, Tschernobyl, Fall der Mauer, 9/11, Brexit, Covid-Pandemie und Klimakrise. Roland ist ein durchschnittlicher Charakter in einem durchschnittlichen Leben. Aber er hat mehr vom Leben erwartet. Wollte er nicht einst Konzertpianist werden oder wenigstens berühmter Dichter? Doch stets zaudert und zögert Roland, wartet auf eine noch bessere Chance, Gelegenheit, Liebe. Auf über 700 Seiten erzählt McEwan nicht nur die Familiengeschichte der Baines (mit seinen Eltern Robert und Rosalind), sondern auch die der Eberhardts (mit Alissas Eltern Heinrich und Jane) mit all ihren Verwicklungen und Verstrickungen. Das hat Längen und ist auch nicht immer fesselnd. Aber Ian McEwan ist ein großartiger Erzähler, dem ich als Lesende gerne durch den mal hierhin und mal dorthin mäandernden Fluss der Lebensgeschichte von Roland Baines folge.

Das Verbrechen des sexuellen Missbrauchs durch seine Klavierlehrerin lässt McEwan seine Hauptfigur Roland zunächst nicht als solches bezeichnen: als Vierzehnjähriger will er erste Erfahrungen sammeln. Roland will keinesfalls jung sterben (was ihm angesichts der Kubakrise 1962 möglich erscheint), ohne mit einer Frau geschlafen zu haben. Und dennoch beeinflusst diese frühe sexuelle und emotionale Erfahrung Rolands weiteres Leben bis ins Alter. Noch tiefere Spuren jedoch hinterlässt Alissas Verschwinden und bringt Roland dazu, über sein Leben nachzudenken. So schreibt McEwan an einer Stelle des Romans:

„Alissas Verschwinden hatte eine Schneise in die Vergangenheit geöffnet. Fast, als wären Bäume gefällt worden für einen besseren Blick. In seltenen Momenten wie diesem sah er, als scharf umrissenen Lichtpunkt, den Ursprung all dessen, was ihm zusetzte, und all denen, die ihm nahekamen.“ (S. 310)

Es geht McEwan in dieser Geschichte nicht um Schuld oder Vergeltung, sondern darum auszuloten, wie man ein Leben lebt, das den verschiedensten (z.T. unbeeinflussbaren) großen und kleinen Einflüssen ausgesetzt ist. Wie man sich darin behaupten kann und welche Lektionen man daraus lernt.

Ian McEwan beherrscht auch in „Lektionen“ die Kunst des Formulierens. Wort für Wort, Satz für Satz und Seite für Seite entsteht so ein berührendes Buch, die Geschichte eines Menschenlebens unserer Zeit. Beeindruckend und lesenswert!

Ian McEwan: Lektionen.
Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben.
Diogenes, September 2022.
720 Seiten, Gebundene Ausgabe, 32,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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