Hugo Loetscher: Das Entdecken erfinden – Unterwegs in meinem Brasilien

entdHugo Loetscher, 2009 verstorbener Schweizer Schriftsteller und Journalist, verliebte sich 1965 auf seiner ersten Reise nach Rio de Janeiro in Brasilien. Danach besuchte er es im Laufe seines Lebens immer wieder. Und er schrieb darüber.

In „Das Entdecken erfinden“ aus dem Diogenes Verlag gibt nun Jeroen Dewulf die besten von Loetschers brasilianischen Reisereportagen heraus und verfasste das Nachwort dazu. Die Reportagen erschienen erstmals zwischen 1967 und 1992 in Schweizer Magazinen und Zeitungen.
Mit Hugo Loetscher folgt nun der Lesende seinen Reisen durch Brasilien, vornehmlich durch den Norden und Nordosten des Landes.
So begibt er sich in Salvador da Bahia auf die Spuren der Stadt zu ihrem europäischen, portugiesischen Ursprung, den Sklaven aus Afrika und den brasilianischen Ureinwohnern, den Indianern. Hier wurden sie alle zu Brasilianern „somos todos brasileiros“ (wir sind alle Brasilianer). Damit gab sich die Nation eine einmalige Devise. Religion, Samba, Karneval und Armut. In Bahia erlebt er das hautnah.
Er beschreibt den armen, rückständigen Nordosten Brasiliens mit seinem Zuckerrohr, seinen Stränden und der periodisch wiederkehrenden Dürre („seca“). Die Situation der Landarbeiter und Großgrundbesitzer, die Arbeit der Cowboys des Nordens, der vaqueiros. Die Abwanderung der Bevölkerung dahin, wo es vermutlich Arbeit gibt an die Küsten und die großen Städte.
Hugo Loetscher bereist 1967 den Amazonas mit dem Schiff von  Belém nach Manaus, acht Tage für 1600 Kilometer, den Urwald und das Amazonas-Theater in Manaus.
Im Bundesstaat Minas Gerais locken riesige Bodenschätze, Erze und Minerale. Früher Gold, in der Barockstadt Ouro Preto mit seinem „Krüppelchen“ (Aleijadinho), dem Künstler Antônio Francisco Lisboa.
Er besucht 1971 Brasília, die Hauptstadt und architektonisches wie stadtplanerisches Superprojekt in der geografischen Mitte Brasiliens. Loetscher beobachtet die menschliche und soziale Leere dort und deren Gegenentwurf mit der Satellitenstadt Núcleo Bandeirante. Über Brasília zitiert er deren Stararchitekten Oscar Niemeyer mit den Worten: „Brasília war am Ende eine Stadt wie die andern, eine Stadt der Reichen und Armen, ungerecht und diskriminierend.“
Er interviewt einen katholischen Priester, Padre Alfredo, im Hurenviertel von Cratéus in Nord-Brasilien und erfährt etwas über den wahren Auftrag der Kirche, nämlich dort „präsent sein, wo sie bisher vernachlässigt habe.“
1972 berichtet er über die Transamazônica, die Straße zum Aufschwung, zwischen Atlantik und Pazifik.
Hugo Loetscher darf 1975 sogar über das „Hirn Brasiliens“ berichten, die Escola Superior de Guerra („die Hochschule für den Krieg“), in der die Militärs über die Zukunft Brasiliens entscheiden.
Und immer wieder Begegnungen mit Menschen: mit Kirchenmännern, Wissenschaftlern, Gewerkschaftern, Schriftstellern und Künstlern, die ihm ihre Sicht auf Brasilien beschreiben, was Jeroen Dewulf in seinem Nachwort veranlasst über das Buch zu sagen, dass es „vor allem ein Buch von Brasilien“ sei.
Durch die Reportagen ziehen sich die Themen Kolonialismus, Industrialisierung und Tourismus, ethnische Demokratie, katholische und afro-brasilianische Religion, Kunst und Politik.
Hugo Loetscher beobachtet fein und interessiert sich aufrichtig für das Land und seine Menschen. Es entstehen ganz subjektive Berichte, geprägt durch seine persönlichen Reiseerfahrungen, so heißt es denn auch im Untertitel zu dem Buch „Unterwegs in meinem Brasilien“.
Loetschers Sprache hingegen bleibt sperrig, distanziert, da geht es nicht um eine schwärmerische Liebe zu einem Land, die blind macht. Hugo Loetscher sieht sehr wohl die Spannungen, die Ungerechtigkeiten, die Armut. Aber da sind auch die Hoffnung und der Glaube daran, dass die ethnische Demokratie mit ihrem „somos todos brasileiros“ eine Chance hat.
Das größte Land Südamerikas heute mit seinen 26 Bundesstaaten und dem Motto „ordem e progresso (Ordnung und Fortschritt) auf der Flagge zeigt viel Licht und viel Schatten. Vom Entwicklungs- zum Schwellenland, Industrienation, Kriminalität, Armut, Korruption, Machtmissbrauch, Ausrichter der Fußball-WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016. Ein Land mehr als Karneval, Samba und Fußball. Ein Land fröhlicher und optimistischer Menschen aller Hautfarben. So gesehen hält die Hoffnung und Zuneigung für Brasilien aus Hugo Loetschers Reportagen bis in die Gegenwart.

Diese Reisereportagen sind etwas für fortgeschrittene Brasilien-Kenner, die Interesse an den historischen und politischen Entwicklungen des Landes haben. Die persönlichen Betrachtungen Hugo Loetschers über sein Sehnsuchtsland erschließen sich dem Brasilien-Neuling jedoch eher nicht.

Hugo Loetscher: Das Entdecken erfinden – Unterwegs in meinem Brasilien.
Diogenes, April 2016.
384  Seiten, gebundene Ausgabe, 24 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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