Hélène Jousse: Die Hände des Louis Braille

Zumindest unbewusst ist wohl jedem schon einmal das perforierte Punktemuster der Brailleschrift aufgefallen, das man unter anderem auf Arzneimittelpackungen, Geldscheinen oder Krankenversicherungskarten findet. Dieses Alphabetsystem, in dem verschiedene Punktkombinationen Buchstaben bilden, ermöglicht es blinden Menschen zu lesen. Erfunden wurde diese Blindenschrift im Jahr 1825 von dem damals erst sechzehnjährigen Franzosen Louis Braille.

Die Autorin Hèlène Jousse lebt als Künstlerin in Paris. Sie hat an der Kunstakademie eine Ausbildung zur Bildhauerin gemacht. Nachdem sie von einem jungen blinden Mann darum gebeten wird, ihm das Handwerk der Bildhauerei beizubringen, taucht sie in eine völlig andere Welt ein. In ihrem Debütroman Die Hände des Louis Braille verwebt sie zwei Geschichten miteinander.

Ein Erzählstrang handelt von Constanze, einer erfolgreichen Dramaturgin, die sich nach dem Tod ihres erblindeten Mannes in einer Sinnkrise befindet. Von dem ihr wohlgesonnenen Produzenten Thomas erhält sie den Auftrag, ein Drehbuch über Louis Braille zu entwickeln. Durch das Schicksal ihres verstorbenen Mannes hat sie sich bereits intensiv mit dem Leben Louis Brailles  auseinandergesetzt. Im Romanablauf wechseln ihre persönlichen Aufzeichnungen, die mit „Rotes Heft von Constanze betitelt sind, mit ihrem Drehbuch über Louis Braille ab. Constanze erlernt sogar die Blindenschrift, um ihrem Protagonisten Louis noch näher zu kommen. Auch wenn ihr Filmproduzent Thomas nicht immer mit ihrer Drehbuchentwicklung konform geht und mehr Dramaturgie fordert, lässt sich Constanze nicht beirren, macht sich Louis‘ Schicksal zu eigen und entwickelt seine Figur mit allen Höhen und Tiefen, die sie dabei durchlebt, weiter. Durch diesen Kniff kann die Autorin Louis Brailles Biografie gemäß ihrer künstlerischen Freiheit ausarbeiten. Ich erfinde nichts, ich erschaffe Leben neu. Der 1852 Verstorbene soll vor den Augen der Zuschauer des 21. Jahrhunderts wieder leben Und ich bediene mich meiner Person dafür (eBook S. 162)

So erfahren wir nach und nach von dem tragischen Unfall des kleinen Louis, der mit drei Jahren in der Sattlerwerkstatt des Vaters sein Augenlicht verliert. In der Schule fällt er durch seine Intelligenz auf. Mit zehn Jahren besucht er in Paris das Königliche Institut für junge Blinde, eine der weltweit ersten Blindenschulen. Weg vom behüteten Zuhause ist er dort anfangs vielen Widrigkeiten und Schikanen ausgesetzt. Durch seinen starken Willen, seine Bescheidenheit und seine Intelligenz trotzt er den Unannehmlichkeiten. Von der institutseigenen Bibliothek ist der lernhungrige Louis sehr enttäuscht, denn dort lagern lediglich zwanzig Bücher, die wegen ihrer ertastbaren Riesenbuchstaben zudem  sehr schwer und unhandlich sind. Als Louis dann auf die von Hauptmann Charles Barbier entworfene Nachtschrift, einen für die Armee konzipierten Geheimcode aufmerksam wird, entwickelt er diesen Code weiter für seine Zwecke. Er erfindet eine Alphabetschrift mit sechs hervorstehenden Punkten, so kann man  mit dem Zeigefinger lesen, als wäre er ein Auge.

Durch das wiedererweckte Leben Louis Brailles im Drehbuch, hat sich auch Constanze aus ihrer eigenen Sackgasse befreit und weiterentwickelt.

Hélène Jousse zeigt interessant aufbereitet und anrührend geschildert das Schicksal des Erfinders der Blindenschrift Louis Braille auf, den sie als großen Sympathieträger und Helden hervorgehen lässt.

Christine Cavalli hat den Roman ins Deutsche übersetzt.

Hélène Jousse: Die Hände des Louis Braille.
Faber&Faber, August 2020.
300 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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