Hannah Dübgen: Über Land

Ein kurzer Augenblick, der alles verändert: Clara fährt mit ihrem Fahrrad eine junge, verstört wirkende Frau an, die sofort wegrennt, obwohl sie augenscheinlich verletzt ist. Die merkwürdige Gangart der Frau, ihre bunt zusammengewürfelten Kleider, ihr etwas südländischer Teint und die dunklen Locken – Clara lässt das Schicksal der jungen Frau nicht mehr los. Ihr kommt der Gedanke, dass es sich um eine Geflüchtete handeln muss. Aus Angst eine Teilschuld am Unfallhergang zu erhalten, was sich negativ auf ihren Asylbescheid auswirken könnte, muss sie das Weite gesucht haben. Doch Clara forscht im Flüchtlingszentrum nach und trifft dort tatsächlich auf Amal.

Drei Menschen aus drei verschiedenen Kulturkreisen bilden den Kern dieser Geschichte. Die deutsche Ärztin Clara, ihr Freund Tarun, der aus Indien stammt und als Architekt in Deutschland arbeitet sowie die Irakerin Amal, die in der Flüchtlingsunterkunft auf ihren Asylbescheid wartet. Amal hat im Irak Archäologie studiert und zeichnet gerne Comics. Ihr Vater ist vor einigen Jahren verschwunden, die Großmutter wurde öffentlich hingerichtet, ihre Mutter erhielt nach kritischen Worten an Saddam Hussein berufliche Repressalien. Amal vermisst ihre Familie fürchterlich, vor allem ihre noch lebende Großmutter Ischtar und deren wundervollen Garten. Sie erzählt Clara die Geschichte ihrer gescheiterten ersten Flucht und der Zeit im Gefängnis. Zwischen beiden Frauen entsteht ein Band über alle Grenzen hinweg. Clara schenkt Amal sogar ihren alten Laptop, damit diese mit ihrer Familie skypen kann. Doch zwei Schicksalsschläge verändern das Gefüge zwischen den Protagonisten. Amals Großmutter wird schwer krank. Auch Taruns Schwester benötigt medizinische Hilfe und sein Bauprojekt – ein Turm in der Stadt Kolkata – der allen Menschen mit seinem „Raum der Stille“ offenstehen soll, gerät ins Stocken. Dadurch fallen Entscheidungen, die alles, an was die Drei bislang geglaubt haben, in Frage stellen.

Freiheit, was bedeutet das für den einzelnen Menschen? Worin besteht die Erfüllung des Lebens? In der Familie, dem Beruf oder der Berufung? Und wie sieht diese Berufung aus? Gibt es so etwas wie universelle Werte, die allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft gemein sind? Wo ist das Verbindende, wo das Trennende? Wo die Heimat, wo die Zukunft – oder sind beide dasselbe? Es sind große Fragen, die Hannah Dübgen hier aufwirft und erstaunlich reflektiert abhandelt.

Die kurzen Kapitel werden abwechselnd aus Sicht von Clara und Amal erzählt. Die Deutsche und die Irakerin, die Einheimische und die Fremde erleben Situationen aus anderer Perspektive, geprägt von ihren jeweiligen Vorgeschichten. So scheut sich Amal, deren Familie schon oft der Willkür des irakischen Staates zum Opfer fiel, im Berliner Museum ihre Jacke abzugeben, weil ihr eingetrichtert wurde, auf ihr Hab und Gut aufzupassen. Auch ihre Definition von Schmerz ist eine andere, als die der Ärztin. Die rational veranlagte Clara kann hingegen nicht verstehen, warum Menschen aufgrund ihrer Ehre sich scheuen, Hilfe anzunehmen. So weigert sich ihr Freund Tarun, Geld von ihr zu leihen, welches seine Schwester in Indien für eine Operation benötigt.

Es sind die kleinen und großen Momente, die Spannungsfelder erzeugen. Vor allem, da sich im Laufe des Plots die Rollen wandeln. In Deutschland wird Amal von Neonazis angestarrt, in Bagdad muss Clara dem misstrauischen Blick eines jungen Mannes am Flughafen standhalten. Hannah Dübgen, die bereits mehrfach ausgezeichnet wurde und an einer Schriftstellerinnenkonferenz im irakischen Basra teilgenommen hat, erzählt höchst menschlich und einfühlsam. Bereits in ihrem ersten Roman „Strom“ hat sie sich Menschen in der Fremde und dem Zusammenfließen von Kulturen gewidmet. Die Ereignisse von „Über Land“ spielen noch vor der großen Flüchtlingswelle im Jahr 2015 und sind doch aktueller denn je. Wir Leser werden Zeugen von Abschiebungen und tanzen mit Amals Freunden nach dem Erhalt eines bewilligten Asylbescheids. Wir sehen Menschen, die sich aus ihrem Schatten herausschälen, die Vergangenheit abstreifen und zumindest einen Teil ihrer alten Stärke zurückgewinnen. Auch das Veilchen, das später noch eine wichtige Rolle spielen wird, ist nicht zufällig gewählt. Es ist ein Zeichen für Hoffnung, Unschuld und Neubeginn.

Hannah Dübgens Roman mag auf aktuelle politische Probleme Bezug nehmen, doch er ist so universell wie zeitlos. Aufrüttelnd, traurig, mitreißend emotional und mit all seinem Licht und Schatten einfach schön. Ein wichtiges Buch – unbedingte Leseempfehlung!

Hanna Dübgen: Über Land.
dtv, Juni 2018.
272 Seiten, Taschenbuch, 11,90 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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