Hala Alyan: Häuser aus Sand

Heimat – was ist das? Der Ort, in dem du geboren wurdest, wo du aufgewachsen bist oder den du dir selbst ausgesucht hast? Oder ist es ein Ort, an dem du nie warst, in dem aber die Familiengeschichte tief verwurzelt ist? Der in Liedern, Gebräuchen und der eigenen Trauer weitergetragen wird? Denn es gibt Menschen und Orte, die hinterlassen generationenübergreifend hinweg ihre Spuren. Hala Alyans Buch erzählt auf berührende Weisen von einer entwurzelten Familie aus Palästina, die gezwungen durch zahlreiche Nahostkonflikte versucht, in Kuweit, Beirut, Amman, London, Boston und New York eine Art von Heimat zu erschaffen.

Nablus, Palästina 1963: Vor der Hochzeit ihrer jüngsten Tochter Alia liest Salma aus deren Kaffeesatz. Sie weiß, dass sie ihr nicht die ganze Wahrheit sagen darf. Ein unstetes Leben steht ihrer Tochter bevor. Was sich nur bald bewahrheiten soll. Vier Jahre später, nach dem Sechstagekrieg mit Israel, ist alles verloren. Die israelische Armee zerstört Olivenhaine und Häuser, tötet junge Männer, darunter auch Alias Bruder Mustafa. Die Familie Yacoub ist heimatlos. Hala Alyan begleitet ihre Nachfahren bis zum heutigen Tag. Kriegerische Konflikte holen die Yacoubs in Kuweit und Beirut ein. Im Westen kämpfen ihre Nachfahren gegen sich selbst, gefangen im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne.

Über die Zeit in Palästina und den verstorbenen Onkel wird niemals gesprochen. Doch das Ungesagte wiegt schwer, schwerer als die Wahrheit. Traumatische Erlebnisse während der Gefangenschaft, die Schuld, den eigenen Kindern keine Sicherheit bieten zu können. Beim Anblick eines Porzellanservice bricht die Mutter in Tränen aus. Sie kann ihrer Tochter nichts vermachen. Familienporzellan, Schmuck, das Hochzeitskleid, das seit Generationen weitervererbt wird – alles musste während der sich immer wiederholenden Flucht zurückgelassen werden. Es gibt nichts Materielles mehr, nur noch Worte und Erinnerungen, stumm und vergraben. Salmas Kinder und Kindeskinder spüren diese Leere und versuchen sie auf eigene Weise zu füllen. Manche flüchten sich in den Koran, manche in den radikalen Islam, manche amortisieren den Westen, suchen Trost in Beziehungen, Rebellion, Alkohol.

So ernst die Materie ist, so wunderschön ist die Prosa. In sinnlichen Bildern entführt uns die palästinensisch-amerikanische Autorin in eine andere Welt. Hala Alyans Seiten duften, schmecken und klingen. Wir lecken uns Kanafeh von den Fingern, tanzen zu den Klängen einer Dirbakeh, lustwandeln durch Märkte, Gärten und Feste. Doch wir sehen auch das Blitzlichtgewitter des Bombenhagels, atmen den Rauch ein. Die Lyrikerin und Autorin schafft es, in wenigen eindrücklichen Szenen die emotionale Wucht eines Themas einzufangen. Da ist ein indisches Dienstmädchen, das in dem bombardierten Beirut einfach zurückgelassen wurde und versucht, ohne Geld in dem einzigen noch geöffneten Geschäft etwas zu essen aufzutreiben. Da ist die Enkeltochter, die ein Wiegenlied anstimmt, welches ganze Generationen versöhnt.

Am Ende ist klar: Kommunikation und Gemeinschaft sind das, was Heimat ausmacht. Daher ist Hala Alyans Roman so wichtig, nicht nur aufgrund der aktuellen Nahost- und Flüchtlingskrisen. Es ist ein Buch gegen das Vergessen, ein Roman für mehr Verständnis. Menschen sterben, das Materielle wird zurückgelassen, Erinnerungen verblassen, aber Worte überwinden die Zeit.

Kein Ort ist von Dauer, doch die Literatur ist es.

Hala Alyan: Häuser aus Sand.
DuMont Buchverlag, Juni 2018.
396 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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3 Kommentare zu “Hala Alyan: Häuser aus Sand

  1. Hallo Diana,

    dieses Buch liegt schon auf meiner Wunschliste. Ich lese sehr gerne Bücher mit Thematiken aus der arabischen Welt. Deine Rezenison hat mir noch mehr Lust auf das Buch gemacht. Bisher habe ich zu Palästina nur „Ismaels Orangen“ von Claire Hajaj gelesen. Das mochte ich auch sehr.

    GlG, monerl

    • Freut mich, wenn ich dich auf dieses weitere literarische Kleinod der arabischen Welt aufmerksam machen konnte. Der poetisch-sinnliche Stil gefällt mir sehr gut. Und es ist tatsächlich ein Buch gegen das „Vergessen“, da durch den chronologischen Verlauf über mehrere Jahrzehnte hinweg viele Konflikte wieder ins Bewusstsein rücken, die mittlerweile von anderen Konfliktherden überlagert wurden.
      Viel Spaß beim Lesen – und beim Weiterschmökern auf SL Leselust!
      Grüße Diana

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