Gloria Naylor: Linden Hills (1985)

Der Name Linden Hills steht für den nördlichen Abhang eines fruchtbaren Plateaus, der am unteren Ende am städtischen Friedhof endet. Und weil der felsige Boden für landwirtschaftliche Zwecke völlig ungeeignet ist, konnte 1820 der dunkelhäutige Luther Nedeed dieses 2,5 km lange Areal kaufen. Die Gemeinde lachte damals über diesen scheinbar dummen Menschen und freute sich schon am Tag des Eigentümerwechsels auf sein Scheitern. Doch was sie später erkannten, erschütterte ihre Erwartungen: Aus dem unwegsamen Gelände ist im Laufe der Jahre eine Heimat für Farbige geworden, die Luther Nedeeds Hütten angemietet oder auf einem gepachteten Grundstück Häuser gebaut haben, während ihr Vermieter und später sein Sohn, Enkel, Urenkel noch immer neben dem Friedhof leben und ihre Dienste für Beerdigungen anbieten. Seine Erfolgsgeschichte, der amerikanische Traum für Farbige, weckte die Neugier der Forscher, den Neid der weißen Nachbarn und die Sehnsucht zukünftiger Mieter und Pächter. Was vielen nicht auffiel, war der häufige Wechsel der Bewohner.

Fünf Tage vor Weihnachten gehen die jungen Männer Willi und Lester dem Vorschlag nach, in den Linden Hills ihre Dienste anzubieten, um ein paar Dollar für Weihnachtsgeschenke zu verdienen. Sie beginnen in den hochgelegenen Straßen und arbeiten sich so nach und nach in die Region der Reichen vor, wo man als armer Schwarzer schnell von der Polizei wegen Hausierens und Betreten von privaten Grundstücken verhaftet wird. Willi und Lester lernen die Schattenseiten ihrer Arbeitgeber kennen und dass hinter der goldenen Fassade nichts mehr glitzert.

Gloria Naylor (1950-2016) wurde in New York geboren. Für ihre Werke erhielt sie unter anderem den American Book Award und den National Book Award. An verschiedenen Universitäten unterrichtete sie Literatur und kreatives Schreiben. Ihr Episodenroman Linden Hills erschien erstmalig 1985, drei Jahre nach ihrem Debütroman Die Frauen von Brewster Place.

Im Zentrum stehen Luther Needed aus der fünften Generation und die jungen Männer Lester und Willi. In den fünf Tagen vor Weihnachten beobachten sie sich gegenseitig. Während Luther ihre Arbeit und Gesellschaft am Heiligen Abend haben will und seine Frau und sein inzwischen verstorbenes Kind im Keller eingesperrt sind, findet Willi den Herrscher über Linden Hills unheimlich. Überall spürt er Luthers Präsenz und Einfluss, die für einige Bewohner unnötiges Leid bedeuten. Der ortsansässige Historiker erklärt Willi, dass es allen um „schwarze Macht“ ginge. „Denkt euch an die Stelle eines Mannes, der über eine Gemeinde herrschen muss, […]“ (S. 339) die zerbrochen, zerrissen und gesichtslos geworden ist.

Die Autorin beschreibt aus der Perspektive unterschiedlicher Charaktere das Leben in der Gemeinde Linden Hills und einiger Anwärter, die Teil dieser brüchigen Erfolgsgeschichte sind. Zweckgemeinschaften, heimliche Dramen und Zwänge legt die Autorin offen, indem sie aus Willi und Lester Zaunzeugen macht. Man könnte Gloria Naylors Roman auch als eine breitgefächerte Fabel lesen, in der menschliche Schicksale einem aufpolierten Image geopfert werden. Denn der nächste Anwärter für Glück und Erfolg muss die Maßstäbe seines Erfolges weiter nach oben schrauben, bis es nicht mehr weiter geht.

Der einfühlsam geschriebene und bewegende Roman wurde von Angelika Kaps aus dem Englischen übersetzt.

Gloria Naylor: Linden Hills (1985).
Aus dem Englischen übersetzt von Angelika Kaps.
Unionsverlag, September 2022.
400 Seiten, Gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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