Esther Safran Foer: Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind

Der Titel des Buchs ist die Botschaft, die Esther Safran Foer ihren im Holocaust getöteten Familienmitgliedern an deren Grab zuruft. Sie, ihre Kinder und deren Kinder, sie sind noch da und halten die Geschichte der Familie am Leben.

In diesem sehr intensiven und sehr persönlichen Buch erzählt die Autorin – sie ist die Mutter des Bestsellerautors Jonathan Safran Foer („Wir sind das Klima“) – vor allem die Geschichte ihrer Eltern.

Esther Safran Foer wird 1946 geboren, doch erst viele Jahre später, als Erwachsene, erfährt sie, warum in ihrer Geburtsurkunde ein falsches Datum und ein falscher Geburtsort genannt sind. Ebenso wie sie erst als Erwachsene durch Zufall lernt, dass ihr Vater, der 1954 starb und nie über sich oder seine Vergangenheit sprach, eine weitere Familie hatte. Dass seine erste Frau und seine Tochter – ihre Halbschwester – im Holocaust ermordet worden waren.

Diese Tatsache, doch nicht nur diese, sind für sie Motiv und Anlass für eine Reise in die Vergangenheit. Sie will herausfinden, wie ihr Vater den Holocaust überlebte, wer ihn rettete und wieso er nie von seiner ersten Familie sprach, sprechen konnte. Wie so viele machte auch Esther Safran Foer die Erfahrung, dass die Generation ihrer Eltern mit ihren Kindern nicht über den Holocaust, die Verluste und das Leid, das sie erlitten hatten, sprechen kann. Ihren Enkeln jedoch können sie davon erzählen, da ist das Thema kein Tabu, keine im Herzen und im Gedächtnis eingeschlossene Erinnerung.

Bevor Esther Safran Foer, mit nicht mehr als einem alten Foto und einer handgezeichneten Karte, aber diese Reise in die Ukraine, woher ihre Familie ursprünglich stammte, antritt, verfolgt sie viele andere Spuren, um mehr über die großen Familien ihrer Mutter und ihres Vaters zu erfahren.

Und das ist das besonders Faszinierende an diesem Buch. Die engen Familienbindungen, auch und vielleicht gerade zu Verwandten, denen man nie zuvor begegnete oder deren Verwandtschaft nur über gefühlte vier oder fünf Ecken besteht, der enorme Zusammenhalt innerhalb der Familie und die nie in Frage gestellte gegenseitige Unterstützung, das alles ist sehr beeindruckend. Dabei wird in jedem Satz und jeder Zeile immer wieder deutlich, wie viele Angehörige im Holocaust ermordet wurden, wie viele Äste im Stammbaum gekappt, abgeschnitten wurden durch diese Morde.

Gleichzeitig liegt hier auch in gewisser Weise für mich das Problem dieses Buches. Zuweilen wirkte es ein wenig konfus, etwas erratisch erzählt. Dann findet die Autorin ihren Faden wieder und berichtet über eine Strecke chronologisch, um sich dann doch wieder in ihren Familiengeschichten zu verirren. Dabei verliert sich die Leserin gelegentlich in dieser großen Familie mit den vielfach verzweigten Strukturen, ist der Stammbaum der Familien sehr verwirrend. Dazu tragen auch die unterschiedlichen Namen bei, die einzelne Angehörige zum Teil haben, denn manche haben neben ihren Taufnamen noch andere, sich an Beruf oder Geburtsort orientierende Namen oder sie haben z.B. bei der Ankunft in den USA ihre Namen aus dem Jiddischen dem Amerikanischen angepasst. Da hilft auch der am Ende des Buches skizzierte Stammbaum nicht wirklich. Hinzu kommt der nicht einfache Schreibstil, an den man sich erst nach und nach gewöhnt. Das erleichtert die Lektüre dieses Buches nicht gerade, tut der Wirkung aber keinerlei Abbruch.

Das Buch von Esther Safran Foer ist fast ein Tagebuch, ein Tagebuch ihrer eigenen Geschichte ebenso wie der Geschichte der Juden, ein Tagebuch der Erinnerungen und ein Reisetagebuch über ihre Reisen zu den Stätten ihrer Familie, ihrer Herkunft und ihrer Zukunft. „Es wurde einmal gesagt, dass Juden ein ahistorisches Volk seien, das sich mehr für Erinnerungen als für Geschichte interessiert. … Geschichte ist öffentlich, Erinnerung ist persönlich. Es geht um Geschichten und um ausgewählte Erfahrungen. Geschichte ist ein Ende. Erinnerung ist ein Anfang.“ (S. 10) und „Ich habe einen Großteil meines Lebens damit verbracht, die Erinnerungen freizulegen, die sich mir entziehen.“ (S. 11).

Alles in allem ein wichtiges Buch, aber auch ein sehr privates, wirkt es an mancher Stelle doch eher wie eine für die kommenden Generationen verfasste Familienchronik als wie ein für die Öffentlichkeit geschriebenes Werk. Dennoch von mir eine klare Leseempfehlung.

Esther Safran Foer: Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind.
Kiepenheuer&Witsch, November 2020.
288 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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