Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen

Elena Ferrante und Neapel gehören seit ihrer „Neapolitanischen Saga“ einfach zusammen. Auch „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen spielt sich in Neapel ab. Die Plätze und Straßen, in denen die Handlung angesiedelt ist, sind auch diesmal nicht erfunden, sondern in der süditalienischen Stadt ganz nach Ferrante-Manier auffindbar.

In den Neunziger Jahren ist die junge Protagonistin Giovanna dreizehn Jahre alt. – Ein Lebensabschnitt, in dem alles im Umbruch ist. Es sind nicht nur ihre körperliche Veränderungen, mit denen Giovanna sich auseinandersetzt. Sie hinterfragt viel, so auch das Verhalten der eigenen Eltern. Das Mädchen, das eine behütete Kindheit hatte und deren intellektuelle Eltern auf eine gute Bildung ihrer Tochter bedacht sind, rebelliert. Sie zeigt keine Interessen mehr an der Schule und macht sich mit Minderwertigkeitsproblemen das Leben schwerer als es ist. Sie nimmt Kontakt auf zu ihrer Tante Vittoria, einer Schwester ihres Vaters, die von ihren Eltern seit jeher gemieden wird. Vittoria lebt quasi in einer ganz anderen Welt, aus der Giovannas Vater sich einst mit viel Fleiß herausgekämpft und die er regelrecht aus seinem Leben herausradiert hat.

Der Vater, der sein Wissen und seine elitäre Stellung gern hervorhebt, negiert seine ärmliche Herkunft und will damit nichts mehr zu tun haben. Nicht nur, dass sein Elternhaus wie alle anderen Häuser in diesem Teil Neapels marode und verwahrlost ist – die Bewohner dort, samt Vittoria, sind es natürlich auch. Die Konversationen verlaufen auf einer ordinären, niveaulosen Ebene. Aber gerade das Dreckige, Primitive übt einen besonderen Reiz auf Giovanna aus. Außerdem wird sie von Vittoria  wie eine Erwachsene behandelt, wenn sie deren Worte und Dialekt übernimmt. Vittorias Version über sich selbst und die Familie ihres Vaters ist eine ganz andere, als die, die Giovanna von den Eltern kennt. Zunehmend wird ihr heiles Familienleben von Enttäuschungen, Brüchen und unschönen Verstrickungen demontiert. Werte und Prinzipien, die ihre Eltern ihr beigebracht haben, verlieren an Bedeutung, nachdem Giovanna herausfindet, dass die Eltern sich selbst nicht daran halten. Dass Vater und Mutter nicht unfehlbar sind und ihre Geheimnisse haben, legitimiert es für Giovanna zu lügen und den Reiz des Verbotenen auszukosten. Sie kapselt sich immer mehr von den Eltern ab, irrt zwischen den sozialen Ebenen des privilegierten Elternhauses und Vittorias primitiven Einflüssen herum und setzt sich so auch immer wieder Gefahren aus, die ihr als solche gar nicht bewusst werden.

Elena Ferrante beschreibt die Entwicklung ihrer heranwachsenden Protagonistin in einer Zeit über zwei Jahre. Immer wieder geht es dabei auch um ein Armband, das mit seinen verschiedenen Besitzerinnen deren Verbundenheit untereinander in vielfältiger Weise aufzeigt. Die Handlung lebt maßgeblich von Giovannas Sinneseindrücken, von ihrem Vor und Zurück, von Weichenstellungen, elterlichen Wertevorgaben, ihrem Widersetzen, Suchen und sich Ausprobieren.

Mit dem Aufdecken menschlicher Fassaden, auch ihrer eigenen, lässt Elena Ferrante ihre Protagonistin reifen, erkennen und zu sich finden, was den zeitweilig traurigen Inhalt tröstlich auflöst.

Wie von Elena Ferrante gewohnt, ist auch dieser Roman spannend und hintersinnig konstruiert.

Elena  Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen.
Aus dem Italienischen übersetzt von Karin Krieger.
Suhrkamp, September 2021.
415 Seiten, Taschenbuch, 13,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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