Dana Grigorcea: Die nicht sterben

Achtung: Lassen Sie sich von Titel und Cover nicht täuschen! Wer hier eine klassische Vampirgeschichte mit blutrünstigen Untoten erwartet, wird enttäuscht. „ER“ wabert, klettert, fliegt und sexelt lediglich im Hintergrund. Auf 260 Seiten wird ihm gerade einmal eine Dialogzeile zugesprochen. Stattdessen entscheidet sich die aus Bukarest stammende Autorin für eine andere Perspektive: Für einen Sitten- und Gesellschaftsroman Rumäniens beginnend im 15. Jahrhundert über Diktatur und Wende bis in die Gegenwart. Die wahren Blutsauger sind allgegenwärtig: Menschen mit ihrer unersättlichen Habgier nach Geld, Macht, Besitz. Ob im Makrokosmos der Politik oder im Mikrokosmos eines kleinen Feriendorfes.

Erzählt wird die Geschichte aus Sicht einer Künstlerin, die in einem Bergdorf nahe Transsilvanien die Sommer ihrer Kindheit verbracht hat. Im Haus ihrer Tante Margot ging die betuchte Bukarester Gesellschaft ein und aus. Nach ihrem Studium in Paris kommt die junge Frau zurück, um sich von der Naturschönheit der Gegend inspirieren zu lassen. Doch etwas hat sich verändert – ihr Blickwinkel.

Die kindliche und jugendliche Autorin sieht den Glanz des Sternenhimmels, das ausgelassene Toben in den Feldern mit den Dorfkindern, die illustre Gesellschaft der Bukarester High Society, einen Sommer voller Freizeitvergnügungen. Die erwachsene Erzählerin entdeckt das Dahinter. Illegale Müllhalden im Wald, nicht minder illegale Abholzung in Naturschutzgebieten, Korruption auf allen Ebenen, verfallene Bauruinen, ärmliche Alte und immigrierende Junge.

Als einer der Sommergäste auf tragische Weise stirbt, taucht ein weiterer, seltsam entstellter Leichnam auf. Dieser fördert eine gewaltige Frage zutage: Befindet sich in der Familiengruft die letzte Ruhestätte von Vlad dem Pfähler, alias Graf Dracula? Der umtriebige Bürgermeister wittert bereits das Geschäft seines Lebens. Die Künstlerin stellt derweil Nachforschungen über den Leichnam an. Es stellt sich heraus, dass es sich eine ihrer Jugendliebschaften handelt. Doch je mehr sie den Spuren ihrer Vergangenheit folgt, desto mehr Veränderungen bemerkt sie an sich selbst…

Grigorceas Grauen ist subtil und dürfte manchen Lesern einiges an Geduld abfordern. Die ersten 100 Seiten ähneln eher einem Sittenroman Rumäniens nach dem Fall der Diktatur mit vagen, mystischen Andeutungen. Die Beschreibungen sind atmosphärisch, dicht, anziehend. Richtig Fahrt gewinnt die Geschichte nach dem Fund der merkwürdig zugerichteten Leiche. Vlad dem Pfähler wird dann auch mehr Raum eingeräumt, wenngleich fast nur in Rückblenden und Erzählungen aus dem 15. Jahrhundert. Hierbei nimmt die Erzählerin eine für westliche Lesart ungewöhnliche Perspektive ein. Sie skizziert Dracula nicht als blutrünstiges Monster, sondern als einen Helden, einen Retter des Abendlandes, einen Reformer Rumäniens. Gewiss: seine Methoden waren grausam (mehrfach wird im Roman das anatomische Vorgehen einer Pfählung und all seinen biologisch abstoßenden Auswirkungen beschreiben). Doch andererseits: Hätte Dracula die Osmanen nicht in seinem Land aufgehalten, wären in Europa niemals die großen Kathedralen erbaut worden. Und war es ihm nicht ein Anliegen, die Schwachen, Verlogenen und Korrupten von ihrem Leid zu erlösen? So soll Vlad nach jeder Kriegsschlacht die Versehrten inspiziert haben. Wer seine Verletzung hinten trug (und sie diese folglich auf der Flucht vor dem Feind zugezogen hatte) wurde gepfählt, wer seine Verletzung an der Vorderansicht im ehrlichen Kampf erworben hatte in seinen erlauchten Kreis des Drachengeschlechtes aufgenommen.

Fazit: Statt allseits bekannter Nervenkitzel der 100-fach ausgelutschten – oder vielmehr ausgesaugten – Vampirstory liefert uns Dana Grigorcea moderne Denkanstoße, die den Horror der allgegenwärtigen, gesellschaftlichen Blutsauger in neuem Licht erscheinen lassen. Gut und Böse verschwimmen. So gleicht der Roman der in Zürich lebenden Autorin eher einem schwülen Sommertag. Matt und ätherisch zugleich, bleichen die Konturen des Tages aus, damit die Nacht Klarheit verschaffe. Ein faszinierender, innovativer Ansatz.

Dana Grigorcea: Die nicht sterben.
Penguin, März 2021.
272 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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