Chris Kraus: Sommerfrauen, Winterfrauen

Chris Kraus, vielfach ausgezeichneter Filmregisseur von Werken wie „Poll“ und „Die Blumen von gestern“ zeigt mit diesem Roman aufs Neue, dass er auch ein großartiger Romancier ist. Er schickt seinen Protagonistin Jonas Rosen ins New York des Jahres 1996. Dort soll der Filmstudent für den exzentrischen Regisseur Lila von Dornbusch einen Sexfilm drehen. Doch New York ist nichts für Anfänger: Jonas findet Obdach in der Bruchbude eines homosexuellen Autors, die Vorbereitungen für die Filmcrew geraten ins Stocken, zudem lauern überall reizende „Sommerfrauen“, während zuhause seine „Winterfrau“ eifersüchtig auf ihn wartet. In New York empfängt ihn zudem ein dunkles Kapitel seiner Familiengeschichte.

„Sommerfrauen Winterfrauen“ nicht zuletzt ein äußerst amüsanter Abgesang an das Lebensgefühl der 90er Jahre. Mit einem sympathischen Protagonisten, der im wahrsten Sinne des Wortes einen an der Klatsche beziehungsweise etwas am Kopf hat. Weshalb selbiger vor umherfliegenden Stiefeln, herabstürzenden Dachbalken und entrüsteten Ohrfeigen geschützt werden muss.

Mit einem hervorragenden Gespür für passgenaue Pointen lässt Chris Kraus den jungen Filmstudenten durch Überfälle, Hurricanes, überkandidelte Künstlerpartys und merkwürdige Dates stolpern. Denn „Gottes Stolpersteine“ lauern auf Jonas Rosen überall. Sein bisher schlimmster – der Motoradunfall, bei dem sein bester Freund ums Leben kam – hat eine irreparable Kopfverletzung verursacht. Damit einhergehend eine verkürzte Lebenserwartung. Zum Glück hat er in seiner Freundin „Mah“, einer gebürtigen Vietnamesin, sein Pendant gefunden. Durch die seitenverkehrte Anordnung ihrer Organe trägt auch sie ein körperliches Handicap mit sich herum.

In New York lauern nicht nur Fettnäpfchen und absurde Begegnungen auf Jonas. Vor dem Treffen mit seiner Tante Paula fürchtet er sich am meisten. Die jüdische Künstlerin war einst das Kindermädchen seines Vaters. Durch sie muss sich Jonas der schrecklichen NS-Vergangenheit seiner Familie stellen, denn sein Großvater bekleidete einst eine leitende Position in einem „SS-Hygiene-Institut“ in Riga. Doch Jonas will nichts von den Männern wissen, die ihm optisch ähneln, aber grausame Dinge getan haben. Daher weigert er sich, einen Film über „Nazischeiß“ zu drehen, auch wenn ihn das Sex-Thema seines Filmprojektes zum Thema „Ohrläppchen und Erotik“ ebenso ratlos zurücklässt. Noch dazu tritt die chaotische Nele in sein Leben, die ihn bei seinen Planungen unterstützen soll. Folge: Jonas kämpft auf jedem Gebiet mit widersprüchlichen Gefühlen.

Chris Kraus ist ein perfekter Spagat zwischen ernsten und humorvollen Themen gelungen. Er findet die Komik in der Tragik, das Licht im Dunkel, die Poesie im Alltag. Wenn Jonas Rosen über seine Situation sinniert, kommt er zu herrlichen Schlussfolgerungen: „Beide Frauen, die ich liebe, sind Kranke. Beide Filme, die ich mache, sind Scheiße.“

Das Zeitalter, in dem die ersten E-Mails durchs Internet schwirrten und Alanis Morisette „Ironic“ im Radio schmetterte, wird nicht nur all jene Leser begeistern, die diese Dekade in ihrer Jugend selbst miterlebt haben. Jonas Rosens Aufzeichnungen sind eine Rückschau auf „von sich selbst berauschten Menschen, die Sehnsüchte hatten und Dinge taten, die uns fremd vorkommen, fremd und auf eine Weise jung, die sich von unserer Weise, jung zu sein, unterscheidet“, wie eine 21-jährige im Vorwort kommentiert.

Fazit: Themen, die uns generationenübergreifend in ihren Bann ziehen. Dazu pointierte Dialoge, großartige Metaphern und ein untrügliches Gespür für szenisches Schreiben. Diese Mischung mach den Roman zu etwas ganz Besonderem. Eine unbedingte Leseempfehlung, natürlich unabhängig von Jahreszeiten und Genderzugehörigkeit …

Chris Kraus: Sommerfrauen, Winterfrauen.
Diogenes, August 2018.
416 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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