Chris Cander: Das Gewicht eines Pianos

Man sagt, heißt es in diesem Buch, der Klavierbauer Julius Blüthner hätte ein besonders gutes Händchen bei der Auswahl des Holzes für seine Pianos gehabt. Wenn er in den rumänischen Wäldern mit seinem Spazierstock an die Fichten klopfte und dem Fallen der Stämme lauschte, konnte er sagen, aus welchem ein ausgezeichneter Resonanzboden werden würde. Diese Sachkenntnis und die Liebe zum Detail beim Bau, ließen in seiner Werkstatt Klaviere entstehen, die mit ihrem warmen Klang die Menschen bezauberten.

Ein solches Blüthner-Piano vermacht ein geheimnisumwitterter, blinder Deutscher der 8-jährigen Katya Anfang der 1960er Jahre im sowjetischen Zagorsk. „Ihr Herz schlägt für die Musik, das sieht selbst ein Blinder,“ schreibt er in seinem Abschiedsbrief.

Und er hat Recht. Katya verliebt sich in ihr Blüthner und in die Musik, die sie ihm entlocken kann. Viele Jahre wird sie täglich an ihrem Klavier sitzen und schließlich an der Leningrader Akademie ihren Abschluss als Konzertpianistin machen.

Als ihr Mann Mikhail sie bedrängt, mit ihm und ihrem kleinen Sohn in die USA auszuwandern, sträubt sie sich, denn es wäre unmöglich, das Blüthner mitzunehmen. Doch er stellt den Ausreiseantrag, verkauft heimlich ihr Klavier und setzt sie so unter Druck. Widerwillig schließt sie sich ihm an und landet nach Monaten in Österreich und Italien schließlich im sonnigen Kalifornien. Doch Mikhails Träume vom beruflichen Aufstieg als Ingenieur und vom guten Leben platzen. Er schafft es nicht, die neue Sprache zu lernen, muss sich als Taxifahrer durchschlagen und fängt an zu trinken. Auch Katya leidet. Sie vermisst ihre Eltern, ihre Heimat und vor allem ihr Piano. Bei einem der wenigen Ausflüge der Familie, der ins Death Valley führt, entstehen Fotos, die sie ihr Leben lang begleiten, weil sie ihre Gefühle spiegeln: „Die Szenerie hinter ihr wirkte in der Tat wie zu Eis erstarrt. Genauso fühlte sie selbst sich – innerlich tot.“

Die Automechanikerin Clara hat Pech mit ihren Beziehungen. Die junge Frau weiß, es liegt auch an ihr: Sie schafft es nicht, sich emotional zu binden, seit sie ihre Familie verloren hat. Die Ängste vor einem neuerlichen Verlust sind zu groß. Als ihr aktueller Freund Ryan sie bittet, die gemeinsame Wohnung zu verlassen, ist sie nicht sonderlich überrascht. Beim Umzug gerät ihr Klavier aus dem Gleichgewicht und fällt ihr auf die Hand. Ihre Knochen brechen. Sie hat zwar nie richtig gelernt zu spielen, aber das Blüthner ist das letzte Geschenk ihres Vaters und das einzige Erinnerungsstück an ihr früheres Leben. Alles andere ist mit ihren Eltern verbrannt. In einer Kurzschlusshandlung stellt sie das Klavier zum Verkauf im Internet ein. Doch als ein Interessent sich meldet, der es unbedingt haben möchte, bereut sie ihren Entschluss. Der Fotograf Greg lässt nicht locker – er ist schon seit langer Zeit auf der Suche nach genau so einem Instrument. Schließlich willigt Clara ein, ihm das Blüthner für seine Aufnahmen zu vermieten. Aber sie vertraut ihm nicht und folgt heimlich den Männern, die ihr Klavier abholen. Der Weg führt ins Death Valley.

Die US-amerikanische Autorin Chris Cander entfaltet in ihrem Roman „Das Gewicht eines Pianos“ ein Drama von emotionaler Wucht, das sicher kaum jemanden kalt lassen wird. Die Protagonistinnen kämpfen mit ihrem Schicksal, verzweifeln daran und scheitern immer wieder. Sie funktionieren nach außen hin, entwickeln dabei Abwehrmechanismen und manche Eigenheit, doch in ihrem Inneren herrscht Leere oder Verwüstung.

Bei aller Schwere ist „Das Gewicht eines Pianos“ aber kein bedrückendes Buch, sondern eines, das auch von Hoffnung und Aufbruch erzählt.

Eine zentrale Rolle spielt das Blüthner-Piano, das die Geschichten der beiden Frauen auf besondere Weise durch Zeit und Raum verbindet. Die Musik zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Ich kann nur empfehlen, auch die Klavierstücke anzuhören, von denen die Rede ist – vor allem die Klaviersonate Nr. 2 von Skrjabin.

In poetische Bildern – mal tieftraurig und verstörend, mal tänzerisch leicht – und mit klugen Gedanken über das Verlieren und (Wieder-)Finden, über Lebensentwürfe und den Umgang mit der Vergangenheit, ist Chris Cander ein großartiger Roman gelungen, der von der Kraft der Musik und der Zuneigung zu den lebensnahen Figuren durchdrungen ist, denen man wünscht, dass ihre verletzten Seelen und gebrochenen Herzen bald heilen mögen.

Chris Cander: Das Gewicht eines Pianos.
HarperCollins, Februar 2019.
400 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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