Brit Bennett: Die Mütter

„Alle guten Geheimnisse haben ihren Eigengeschmack, bevor sie verraten werden, und wenn wir dieses spezielle etwas länger abgeschmeckt hätten, wäre uns vielleicht aufgefallen, dass es sauer war, wie ein unreifes, zu früh gepflücktes Geheimnis, vom Baum gestohlen und vor der eigentlichen Erntezeit herumgereicht.“ (Zitat S. 9)

Die Mütter, so werden die alten Frauen der Gemeinde Oceanside in Kalifornien genannt, kennen die Geheimnisse der Gemeindemitglieder. Das glauben sie jedenfalls, schließlich kümmern sie sich um deren Gebetsanliegen und beten für sie um neue Jobs, neue Häuser und Ehemänner, bessere Gesundheit, mehr Geduld und weniger Versuchungen. Und zusammengenommen haben sie jahrhundertelange Lebenserfahrung. Doch tatsächlich übersehen sie vieles. Ihnen entgeht, wie die siebzehnjährige Nadia Turner den Boden unter den Füßen verliert, nachdem ihre Mutter sich ohne ein Wort der Erklärung oder des Abschieds das Leben genommen hat. Sie wissen nichts von Nadias Selbstvorwürfen, denn ist Nadia der Grund, warum Elise Turner keine Ausbildung machen und nicht so leben konnte, wie sie es sich erträumt hatte. Die Mütter ahnen nicht, wie ungeliebt sich Nadia fühlt, wie tief sich der Vater in sich selbst zurückzieht, welche Sprachlosigkeit zwischen den beiden herrscht. Nadia sehnt sich nach Schmerz, der von außen kommt. Sie stürzt sich in eine Beziehung mit Luke, dem Sohn des Pastors, einem ehemaligen Footballtalent, der aufgrund einer Verletzung nicht mehr spielen kann. Mit der Verhütung nimmt sie es nicht so genau – sie wird schwanger. Den Fehler ihrer Mutter will sie auf keinen Fall wiederholen; sie hat ein Stipendium fürs College und die Chance, aus Oceanside herauszukommen. Nadia hält die Schwangerschaft geheim und beschließt, das Kind abzutreiben; nur Luke erfährt davon. Er hat jedoch kein Mitspracherecht, er soll lediglich das Geld für die Abtreibungsklinik besorgen. Ihre Liebe zerbricht. Halt findet Nadia einzig bei Aubrey, einem gleichaltrigen Mädchen, das seit etwa einem Jahr in Oceanside wohnt und sich in der Kirchengemeinde engagiert. Auch Aubrey hütet ein Geheimnis aus ihrer Vergangenheit. Die beiden werden beste Freundinnen und sind einen Sommer lang zusammen mit Aubreys Schwester und deren Lebensgefährtin so etwas wie eine Familie.

Nadias Geheimnis wird Jahre später durch den Tratsch der Mütter ans Licht gezerrt, die Folgen sind nicht mehr aufzuhalten.

Fast jedes Kapitel wird mit der Erzählstimme der Mütter eingeleitet, mit ihren Beobachtungen und Spekulationen, ihrer Selbstzufriedenheit und den besten Absichten, die sie angeblich haben. Dann erzählt die Autorin jeweils aus der Sicht der drei jungen Menschen weiter, deren Schicksale durch Versehrtsein, Liebe, Freundschaft, Verrat und Verlust miteinander verwoben sind. Bennett gräbt tief nach Antworten auf die Frage, was es wirklich ausmacht, Mutter zu sein. Unter anderem Mitgefühl – und das ist etwas, worüber weder die Mütter verfügen noch die Frau des Pastors, Lukes Mutter, die es für sich in Anspruch nimmt zu dienen und sich zugleich First Lady nennen lässt. Auch das Nicht-Mutterwerden und die seelischen Folgen werden von Bennett thematisiert.

Sämtliche Hauptfiguren sind schwarz, eine Tatsache, die anscheinend nur am Rande Bedeutung hat, aber an den wenigen Stellen zuschlägt, die beiläufig den ganz alltäglichen Rassismus erzählen.

Brit Bennett ist ein vielschichtiger, berührender Debütroman gelungen, der sehr nachdenklich macht. Klare Leseempfehlung.

Brit Bennett: Die Mütter.
Rowohlt, April 2018.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Ines Niederschuh.

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