Barbara Newhall Follett: Die Welt ohne Fenster (1927)

„Dies ist eine Geschichte. […] Ein Rätsel, eine Fantasie“ und „Sie beginnt vor über einem Jahrhundert in einem kleinen Haus in […] New Hamshire“ (S. 15) Sie handelt von dem wilden Mädchen Eepersip. Eines Tages stellt sie fest, dass sie nicht mehr mit Menschen zusammenleben möchte. Sie erträgt weder die Enge eines Hauses noch sonst irgendwelche Zwänge. Nur in der unberührten Natur kann sie leben und glücklich sein. Ihre Liebe zu den Pflanzen und Tieren, dem Sonnen- und Mondlicht, dem Wind, dem Bach, dem Meer und den Bergen wächst mit jedem Tag, den sie in völliger Abgeschiedenheit leben darf. Es ist eine Welt ohne Fenster, voller Glück und Zufriedenheit.

Diese poetische Geschichte ist so ungewöhnlich, als wäre sie nicht von dieser Welt. Wer tagtäglich mit offenen Augen seine Umgebung betrachtet, die Folgen der Industrialisierung riecht und spürt, dürfte von der Lektüre über die Liebe zur Natur mit seiner absoluten Konsequenz überrascht und angerührt werden.

Ein wildes, ungezähmtes Mädchen legt alles ab, was sie an Zivilisation erinnert und streift durch die Weiten eines Landes, das noch nicht mit Straßen, Parkplätzen und Häusern zubetoniert ist. Die Natur wird ihre Lehrerin, Freundin und Ernährerin. So ähnlich mag die Autorin Barbara Newhall Follett empfunden haben, die 1914 geboren wurde und mit zwölf Jahren als amerikanisches Wunderkind berühmt wurde. Sie lebte zeitweise selbst das Leben eines wilden, ungezähmten Mädchens, verließ häufig für eine Weile ihre Eltern, um in der Natur glücklich zu sein.

Ihr einzigartiges Sprachtalent zeigte sich schon sehr früh, als sie im Alter von acht Jahren beschloss, ihrer Mutter eine selbst geschriebene Geschichte zu schenken. Doch kaum war das Manuskript fertig, brannte das Elternhaus ab. Nur wenig konnte die Familie retten. Barbara versuchte, aus ihrem Gedächtnis die Geschichte Wort für Wort zu retten. Aber es gelang ihr nicht. Die Geschichte war viel zu lang, und gleichzeitig wollte sie weitergeschrieben werden. Als sie dann schließlich überarbeitet und fertig war, nahm ihr Vater das Manuskript mit in den Verlag, in dem er arbeitete. Schnell wurde es entdeckt, veröffentlicht und ein Bestseller. Wer dieses Buch liest, wird eine Sprachgewalt und Reife antreffen, die man niemals bei einem Kind vermuten würde, es sei denn, es handelt sich um ein Wunderkind mit einer gereiften Seele. Letztendlich spielt das Alter der Autorin keine Rolle. Ihr gelang eine einzigartige Liebeserklärung voller Poesie mit dem Mut zur völligen Hingabe.

Berühmt wurde die Autorin noch einige Male. Einige Veröffentlichungen in jungen Jahren schlossen ein Zeitfenster. Barbara wurde erwachsen, heiratete, wurde aufgrund ihres wilden, ungezähmten Herzens unglücklich und verschwand spurlos im Alter von 25 Jahren wie einst Eepersip in ihrem ersten Buch.

Die Illustratorin Jackie Morris liebt Die Welt ohne Fenster so sehr, dass sie eine neue Buchgestaltung vornahm. In der Übersetzung von Stefanie Fahrner darf man nach fast 100 Jahren den fast vergessenen Zauber erneut lesend erfahren. Das wunderschön gestaltete Buch rundet ihn ab.

Barbara Newhall Follett: Die Welt ohne Fenster (1927).
Diana, März 2021.
192 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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