Ava Reed: Wenn ich die Augen schließe

Norah und ihre Freunde feiern. Wie alle anderen haben sie auf der Party Spaß, tanzen und trinken Alkohol. Am frühen Morgen wollen sie in Tims Wagen wieder nach Hause fahren. Sie wissen, dass Tim ebenfalls getrunken hat und erst seit kurzem einen Führerschein besitzt. Vielleicht verliert er deshalb die Kontrolle über sein Fahrzeug, während die anderen noch ausgelassen zur lauten Musik singen. Alle bis auf Norah kommen mit ein paar Kratzern und dem Schrecken davon. Denn Norah war als einzige nicht angeschnallt und wird durch die Frontschreibe geschleudert. Nachdem sie irgendwann aus dem Koma erwacht, erfährt sie, dass sie hätte sterben können. Abgesehen von den Blessuren und der Notoperation spürt Norah noch eine Veränderung. Etwas in ihr ist anders.

„… Ich fühle mich wie eine Uhr, die nicht mehr läuft, wie ein Habicht mit gebrochenen Flügeln. Ich bin ein Zebra ohne Streifen oder ein Baum ohne Wurzeln.“ (S. 50)

Aus irgend einem Grund fehlen ihr die Erinnerungen aus den letzten drei Jahren, und sie weiß nicht mehr so genau, was sie ausmacht. Gefühle und Neigungen müssen neu entdeckt werden. Nur ihr alter Freund Sam kann helfen, glaubt Norah. Ihm vertraut sie ihre Gedanken an.

„Wie ist es möglich, dass jemand sich an fast alles erinnert, aber nicht an seine Gefühle? … Dieser Unfall hat sich einen Teil von mir gekrallt, den ich nicht verlieren wollte.“ (S. 122)

Es sieht so aus, als wäre da noch mehr verloren. Norah fällt das Schweigen ihrer Freunde auf, die offensichtlich nicht wissen wollen, wie es ihr geht. Und wo sind ihre Gefühle für Jonas geblieben, der an ihrer Schule der beliebteste Junge und ihr Freund ist?

Ava Reed schreibt erfolgreiche Jugendromane, unter anderen weil ihr harmonischer Sprachstil mit prägnanten Wortkombinationen zu einer berührenden Lesereise einlädt. Wenn Norah oder Sam erzählen, dann haben sie die gleiche Sprache, die eher an die einer empfindsamen Erwachsenen denken lässt.

Die Autorin thematisiert in ihrem Buch Norahs Suche nach der eigenen Identität, die in der Gruppendynamik eines Freundeskreises nicht immer funktioniert. Mobbing und Gemeinheiten dürften hierfür die größten Hindernisse sein. Um einigermaßen heil aus der Gleichmacherei zu kommen, braucht es echte Freunde. Für Norah ist Sam ein echter Freund, der zum Zeitpunkt ihres Unfalls schon seit einer Weile nicht mehr ihr Freund ist. Aber das weiß Norah anfangs nicht. Sie spürt für Sam Gefühle, die sie irritieren. Ava Reed schreibt vor dem Hintergrund von Verletzungen und Ausgrenzung eine schöne Annäherungen zweier Menschen, die sich schon lange lieben. Vor jedem Kapitel betitelt die Autorin einen Song nebst Interpreten, der akustisch die Lektüre begleiten oder ergänzen kann. Ihre wichtigen Fragen könnte man zusammenfassen: Wer bin ich; wer will ich sein? Oder was will/kann ich mit gutem Gewissen zulassen?

Ava Reed: Wenn ich die Augen schließe.
Loewe, Oktober 2020.
320 Seiten, Taschenbuch, 14,95 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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