Aravind Adiga: Golden Boy

Radha und Manju sind zwei sehr unterschiedliche Brüder, die von ihrem ehrgeizigen Vater zu künftigen Cricket-Profispielern gedrillt werden. Während der ältere Radha mit seinem Filmstaraussehen das Rampenlicht genießt, ist das Spiel dem jüngeren Bruder bisweilen verhasst. Dies liegt nicht nur am strengen Vater und seinen dogmatischen Regeln. Manju entdeckt außerhalb des Cricketplatzes noch eine ganz andere Welt – die Welt der Naturwissenschaften, der Liebe, der Freiheit. Ausleben kann er nichts davon. Denn er muss den Traum seines Vaters erfüllen. Dieser sieht als armer Chutney-Verkäufer aus dem Slum, dem die Ehefrau weggelaufen ist, keine andere Möglichkeit zum sozialen Aufstieg in Mumbai, als über eine Sportlerkarriere seiner Söhne.

Nicht nur der Vater ist hinter dem Ruhm der Jungen her. Talentsucher, Sponsoren, Medien… sie alle befeuern sogar die Rivalität unter den Brüdern. Doch je älter sie werden, desto mehr begehren sie auf. Da ist die reiche Sofia, mit der Radha eine Beziehung eingeht. Da ist der ebenso wohlhabende Moslem Javed, Radhas größter Konkurrent, der sich jedoch zu Gedichten und einem freigeistigen Leben hingezogen fühlt. Zwischen Angst und Agonie, Selbstbestimmung und Familientradition, Verleugnung und Erkenntnis, versuchen die Jungen ihren Weg zu gehen. Wo der Druck zu groß ist, entlädt er sich auf unterschiedlichste Weise – zur Not mit Gewalt.

Aravind Adiga ist ein großartiges Lehrstück über den Aufstieg und Fall der menschlichen Natur gelungen. Erstaunlich, wie ungeschönt der Autor mit seiner Heimat Indien ins Gericht geht. Bollywood-Sentimentalitäten sucht man auf diesen Seiten vergebens. Adiga verschließt die Augen weder vor Korruption, Umweltverschmutzung, Homophobie noch der Angst der Hindus, vor der befürchteten Islamisierung ihres Landes. Er zeichnet ein Indien im Zerrbild zwischen Tradition und Moderne, in den Fängen des „Turbokapitalismus“ und dem unbedingten Streben nach sozialem Aufstieg. Dabei findet der Autor einprägsame Bilder und klare Worte. „Rache ist der Kapitalismus der Armen“ ist so ein Satz. Oder die Feststellung, dass Cricket nur dazu da sei, die Millionen frustrierter indischer Männer ruhig zu stellen, die in Zukunft leer ausgehen werden, weil durch Abtreibung weiblicher Föten rund 10 Millionen Frauen fehlen.

Mutter Indien ist ein großartiges Land, wenn da nur nicht die Inder wären… Indien hätte sich nie vom Urkontinent Gondwana loslösen sollen, um sich Asien anzuschließen. Wäre man doch ein eigenständiges Super-Atlantis geblieben! Ja, auch der Wortwitz kommt hier nicht zu kurz.

Wie viele indische Autoren schafft es Adiga, den Spagat zwischen Licht und Schatten zu meistern und sogar ein Augenzwinkern einzubauen. Er driftet weder in Kitsch noch in Melancholie ab. Trotz all des Gestanks und der Armut, blitzt pure Schönheit unter den Banyan- und Kokosnussbäumen hervor. So tauchen wir in eine schillernde Welt, in der es laut Jainismus sieben verschiedene Wahrheiten gibt. Eine Welt, in der Väter ihren Söhnen Weisheiten wie diese mit auf den Lebensweg geben: „Tausend Maden in einem Kuhfladen, doch wenn die Sonne untergeht, sind alle tot.“

Es gibt kein Schwarz und Weiß, Menschen verhalten sich nicht geradlinig und logisch, die Guten sind manchmal böse und die Bösen haben ihre lichten Momente. Wenn der Lebenstraum gescheitert und man Opfer seiner eigenen Mittelmäßigkeit geworden ist, ist dies auch in Ordnung. Vielleicht war es Schicksal, vielleicht Karma. Denn auch im Schrecklichen blitzt stets noch etwas Schönes durch.

Die Universalgeschichte der ungleichen Brüder – schon seit der Bibel ein Dauerbrenner – wurde von Netflix als Mini-Serie in bewegten Bildern verarbeitet. Inwieweit die Originalgeschichte für Zuschauer jenseits des asiatischen Kontinents angepasst wurde, bleibt abzuwarten.

Fazit: Wer bewusst mit westlichen Lesegewohnheiten bricht, findet in diesem Roman ein wunderbares Lehrstück über das Wesen der Menschen und ein faszinierendes Land der Gegensätze. Was der Realität gewiss näherkommt, als jene lineare „westliche“ Sicht. Ein schönes, vielschichtiges und sinnliches Literaturerlebnis.

Aravind Adiga: Golden Boy.
dtv, Dezember 2018.
336 Seiten, Taschenbuch, 10,90 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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2 Kommentare zu “Aravind Adiga: Golden Boy

  1. Hallo,

    da musste ich erstmal verwirrt blinzeln, denn ich kannte „Manju“ bisher nur als Mädchenname! Eine Kommilitonin von mir, deren Familie aus Indien kam, hieß so. Ihre Eltern (beide Ärzte) waren sehr modern und westlich, deswegen war es für sie auch kein Drama, dass sie mit Manju und ihrer Zwillingsschwestern direkt zwei Mädchen auf einmal bekamen.

    Das Buch klingt wirklich sehr interessant! In ein paar dieser Themen findet man ja fast schon ein Spiegelbild der westlichen Kultur: auch hier befürchtet man die Islamisierung des eigenen Landes, und statt Cricket dient der Fußball zum Frustabbau…

    Anderes dagegen ist uns völlig fremd, wie diese massive Abtreibung weiblicher Föten. Davon habe ich zwar schon oft gehört, aber wieviel weiß ich darüber wirklich? (Und wo ich jetzt darüber nachdenke: in Indien wären Manju und ihre Schwester womöglich nie geboren worden.)

    Das Buch möchte ich jetzt auch noch lesen!

    LG,
    Mikka

    • Liebe Mikka,
      danke für den Hinweis mit dem Vornamen. Ja, in anderen Kulturen ist die Namenslage wirklich unübersichtlich. Eine Freundin aus Äthiopien klärte mich darüber auf, dass Mädchen automatisch auch den Vornamen ihres Vaters erhalten.

      Und tatsächlich ist in dem Buch auch einiges wiedergespiegelt, womit wir uns im Westen auf die eine oder andere Art beschäftigen. Fußball und Cricket als neues „Opium fürs Volk“, Angst vor Islamisierung, aber auch Themen wie Umweltverschmutzung und Turbo-Kapitalismus werden in diesem Buch angesprochen. Der Autor schönt dabei nicht viel. Für mich ein Buch, das sowohl die Unterschiede, als auch die Gemeinsamkeiten von Ost und West schön verdeutlicht.

      Viel Spaß beim Lesen!

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