Anthony Powell: Eine Frage der Erziehung (1951)

„… Damals jedoch war mir nicht so klar bewusst, dass die Wahl zwischen Würde und unbefriedigter Neugier eine grausame, aber notwendige Entscheidung darstellte.“ (S. 143)

Für Nicholas Jenkins sind die letzten Jahre vor seinem Studium nicht nur eine Frage der Erziehung sondern auch eine, ob er sich zwischen den Gleichaltrigen aus der englischen Oberschicht behaupten kann. Sie symbolisieren gleichzeitig ein unsichtbares Räderwerk aus Beziehungen und Geld, das seine Schützlinge in wichtige Positionen des gesellschaftlichen Lebens hieven wird. Während Jenkins sein Studium zum Abschluss bringen will, sucht er einen Platz in dieser Gesellschaft, die nach dem Ersten Weltkrieg den Aufbau des Landes vorantreibt.

Bei Einladungen in die Familien seiner Freunde erfährt Jenkins, wer zum inneren Kreis gehört und wer nicht. Sehr schnell erfährt der Betroffene, wie es sich anfühlt, im Zentrum von Missachtung und seltsamen Späßen zu stehen und mit seinen Peinigern gemeinsam zu lachen. Und wenn zum Spaß auch noch Rachegelüste hinzukommen, wird die Person non grata bei passender Gelegenheit als vermeintlich gesuchter Verbrecher angezeigt, um die Aufregung nach dessen Verhaftung zu genießen.

Anthony Powell (1905 – 2000) zählt zu den großen Autoren, dessen zwölfbändiges Werk Ein Tanz zur Musik der Zeit mit den großen Werken von Balzac, Joyce oder Thomas Mann verglichen werden kann. Als Schüler des Eton Colleges, Student in Oxford kennt der Autor zahlreiche Fallstricke, ebenfalls die gesellschaftlichen, die er durch die Heirat mit einer Adeligen erfährt. Präzise und aus Kalkül werden diese gern bei einer Dinnerparty für  Nichtdazugehörige ausgelegt. Was sich daraus ergibt, dient der Unterhaltung.

Der Ich-Erzähler Nicholas Jenkins erlebt Freundschaften und Einsichten, die sein späteres Leben prägen. Im ersten Teil, Eine Frage der Erziehung, aus dem Jahr 1951, erfährt der Leser beiläufig, dass eine längere Geschichte auserzählt wird. Denn über Sonny, der zahlreichen Angriffen ausgesetzt ist, berichtet Jenkins, diesen sympathischen, talentierten Mann zwanzig Jahre später wiederzusehen.

Der junge Nicholas tritt als ein kühler, analytischer Beobachter in Erscheinung, der seine Mitmenschen treffend in ihrer Wesensart und in ihren Disputen untereinander zu beschreiben vermag. Seine im Werk auserzählte Lebensgeschichte verweist dabei auf zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Anthony Powell. Aus diesem Grund ist seine Sprache, übersetzt von Heinz Feldmann, auch die der Oberschicht, die höflich umkreisend alles Kaschierende beiseiteschiebt. Auf diese Weise behält der Entblößte trotz all seiner Unzulänglichkeiten seine Würde.

Der feine englische Humor ist bekanntlich keiner, der mit viel Dampf und Hilfsmitteln seine Wirkung erzielt. Wer sich für eine aufmerksame Lektüre öffnet, fängt in so manchen Schachtelsätzen überraschende Informationen und Pointen ein. Eine Anstrengung, die sich lohnt und zugleich den Blick für die noch immer bestehenden gläsernen Wände schärft.

Anthony Powell: Eine Frage der Erziehung (1951).
dtv, September 2017.
264 Seiten, Taschenbuch, 10,90 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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