Anna Mayr: Die Elenden

Liebe Mama, du hast Recht. Dieses Buch rührt an, beschäftigt, löst aus. Und weckt in mir den Wunsch und Drang, davon zu erzählen.

Wer Anna Mayr bereits als Autorin der Zeit kennt, hat allen Grund sich zu freuen. Denn sie schreibt nicht nur fantastische Artikel sondern vermag es, ihren Standpunkt auch in ihrem 2020 erschienenen Roman „Die Elenden“ anschaulich wiederzugeben.

Aufgewachsen in einem liebevollen Zuhause mit gebildeten Eltern lernte sie schon früh, was es bedeutet, arbeitslos zu sein. Denn sie selbst wurde als Kind Langzeitarbeitsloser bereits dieser Kategorie zugeordnet, musste als 11-Jährige mit dem gleichen Hartz-IV Gehalt wie ein Säugling leben, bekam mit 16 ihren ersten Brief vom Jobcenter und spürt noch heute die Unsicherheit, die eine Kindheit unter den in Deutschland herrschenden Repressionen gegenüber Arbeitslosen auslöst. Nehme ich den teuren Bio-Apfel oder doch das günstigere Kilo? Kann ich es mir leisten, Taxi zu fahren? Kaufe ich die Uhr für 12 oder für 140 Euro? Fragen wie diese beschäftigen die junge Frau noch immer und werden sie vermutlich niemals ganz loslassen. „Wünschen, Mehr-Wollen, am Kapitalismus teilnehmen, das sind auf gewisse Weise Kultur-Techniken, die man erst einmal verstehen und erlernen muss.“, beschreibt sie den Grund, der diese Unsicherheit in ihr auslöst.

Doch es sind nicht nur die eigenen Erfahrungen, die diesen Roman ganz besonders lesenswert machen. Es ist die stringent schlüssige Argumentation, mit der Mayr gekonnt die Missstände in Deutschlands Armutssystem aufdeckt und jede kleine Schraube untersucht, die bewirkt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird. So lernen wir die Geschichte der Arbeitslosigkeit kennen, die Geschichte der dazugehörigen Politik, wir verstehen Zusammenhänge und üben Sprachkritik. Wieso heißt es Arbeitsloser? Wie kommt es, dass der Mensch stets aufgrund dessen definiert wird, was er nicht hat? Und wie kann es sein, dass die Arbeit überhaupt eine so tragende Rolle in unserem Leben spielt? Was sind Menschen ohne Arbeit? Die Angst, gibt Mayr die Antwort. Manche haben Angst vor dem Abstieg, doch Arbeitslose sind diese Angst. Die Verkörperung von etwas, das der Großteil der Bevölkerung fürchtet. Und somit dienlich als Antrieb, niemals arbeitslos zu werden.

Diese clevere Autorin lädt uns dazu ein, die Perspektive zu wechseln. Nicht hin zu der einer armen Person, sondern von hier nach da und wieder zurück. Flexibel bleiben. Darum geht es. Und darum, sich nicht verteidigen, keine Erklärungen, keine Entschuldigungen liefern zu müssen für die Situation, in der man sich befindet. Dazu fordern einen die Behörden schon genug auf. Es geht darum, vorurteilsfrei zu sein gegenüber allem menschlichen Sein, nicht davon auszugehen, dass es in einem armen Haushalt keine Bücher gibt, sich frei zu machen von dem kapitalistischen Panzer, der uns alle umgibt. Und es geht darum, wütend zu sein. Denn Wut ist besser als Angst. Und Wut hat die Kraft, zu verändern. Wut ist es, aus der heraus Anna Mayr ein Buch schreibt, das mich mehr gebildet hat als ein Jahr meiner Schulzeit, das unfassbar viel Hoffnung in sich trägt und sich hervorragend zum Schmeißen eignet, um die Unwissenden wachzurütteln.

Anna Mayr: Die Elenden.
Hanser, August 2020.
208 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Jana Luisa Aufderheide.

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