Angelika Waldis: Die geheimen Leben der Schneiderin

Als Jolies Bruder Franz 17 war, verschwand er eines Tages spurlos. Seine Kleidung wurde an einem Badesee gefunden, seine Leiche jedoch niemals. Das ist nun 36 Jahre her, Jolie ist mittlerweile 47 Jahre alt, doch den Verlust des Bruders konnte sie nie ganz verkraften. Sie hält sich mit einem Nähatelier mehr schlecht als recht über Wasser und bezieht Zahlungen von ihrem Exmann, mit dem sie eine gemeinsame, mittlerweile erwachsene Tochter hat. Doch nie konnte sie sich ganz von Franz loseisen und glaubt tief in sich drin, dass er noch leben könnte, dass er einfach gegangen sei damals. Im Internet inseriert sie eine Suchmeldung nach ihm und erhält viele Zuschriften, die ihr Hoffnung machen.

Im Hause Hansen waren sie fünf Geschwister, Franz war mit seinen 17 Jahren damals der älteste. Neben Jolie gab es noch Frido, Rina und Vinz. Nun sind sie nur noch viert und anlässlich des 80. Geburtstags der Mutter hat Jolie die Hoffnung, man könne die komplette Familie wieder vereinen. Auch Franz soll zu Mutters Geburtstag kommen und sie plant fest einen Stuhl für ihn ein. Denn sie kann einfach nicht glauben, dass er wirklich tot sein soll.

Angelika Waldis Roman „Die geheimen Leben der Schneiderin“ wurde erstmals bereits 2014 veröffentlicht und ist somit bereits vor ihrem anderen Roman „Ich komme mit“ aus dem Jahr 2018 erschienen. Das macht ihn aber keinesfalls schlechter, denn schon damals konnte die Autorin toll schreiben. Jolie, die mit vollem Namen Jolanda heißt, hat ein kleines Auftragsbuch. Auf den hinteren Seiten dieses Büchleins führt sie Aufzeichnungen über Dinge, die sie beobachtet hat. Dadurch kommen einige tiefgründige, oft so wahre Zitate zusammen. Auch verfasst sie in Gedanken mehrere Anzeigen fürs Internet, bevor sie dann tatsächlich eine von ihnen veröffentlicht. „Lieber Franz, […] Solltest du nicht im dunklen Wasser verfault, sondern noch am Leben sein, dann melde dich bei mir. Du weißt, dass ich Geheimnisse für mich behalten kann. Ich stelle mir vor, wird könnten zusammen Blumen vor deinen Grabstein legen.“

Der Roman ist geprägt von all diesen besonderen, tiefgründigen Worten und geht in seiner Kürze von nicht einmal 200 Seiten doch sehr in die Tiefe. Man erfährt sehr viel über Jolie und ihre Beziehung zu all den Menschen in ihrer Umgebung. „Das geheime Leben der Schneiderin“ ist ein besonderer Roman, der von den ungesagten Dingen zwischen den Zeilen lebt und ein weiteres Mal beweist, dass Angelika Waldis sehr talentiert ist.

Angelika Waldis: Die geheimen Leben der Schneiderin.
Wunderraum, Mai 2019.
192 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Janine Gimbel.

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