Amy Liptrot: Nachtlichter

„Es ist schwer, von etwas genug zu bekommen, das nur beinahe funktioniert.“ (Zitat S. 339)

Amy Liptrot ist auf den Orkney-Inseln aufgewachsen, einer Inselgruppe nordöstlich von Schottland. Ihr Vater hat eine bipolare Störung, seine manischen und depressiven Phasen bestimmen das Leben auf dem Bauernhof ebenso wie das Wetter und die Gezeiten. Die Mutter ist tief religiös; ihr Glaube ist nichts, das auch der Tochter Halt geben könnte. Der Raum aus Himmel und Meer ist weit, doch Amy fühlt sich eingesperrt zwischen Klippen und Schafen, eingeengt durch die Kälte und den Wind. Sie zieht nach London, um zu studieren und um endlich zu leben.

London, das sind hell erleuchtete Straßen, durchfeierte Nächte, ständig neue Bekannte, Freunde und Mitbewohner, Alkohol, wechselnde Jobs, halbherzige Abstinzenzversuche, noch mehr Alkohol, Drogen. Amy lässt sich treiben, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick, immer in der Gefahr abzustürzen. Sie verliert ihre Liebe, die Wohnung und den Job und erkennt, dass sie etwas ändern muss. Dass sie sich ändern muss. Die dreimonatigen ambulante Therapie in einem Behandlungszentrum zieht sie irgendwie durch – und nun? Arbeitslos und eben erst trocken in London zu sein, ist schwierig. Sie beschließt, nach zehn Jahren auf die Orkney-Inseln zurückzukehren. Ihre Familie ist dort, sie kann sich von Orkney aus für neue Jobs bewerben.

Das autobiografische Buch beginnt mit der Rückkehr nach Orkney. Während Amy sich mit ihrem Vater um die Schafe kümmert und Trockenmauern baut, reflektiert sie die Zeit in London. Die Heilung setzt ein. „Mit der Reparatur der Trockenmauern setze ich gleichzeitig auch mich selbst instand. […] Ich muss die Mauern zuerst ein Stück einreißen, ehe ich anfangen kann, sie wieder aufzubauen. Ich muss mit den Steinen arbeiten, die ich habe.“ (Zitat S. 118) Amy beobachtet die Natur, recherchiert zu ihren Beobachtungen, und als sie eine Anzeige für einen Sommerjob im Rahmen eines Vogelschutzprojektes liest, bewirbt sie sich und macht sich auf die Suche nach dem seltenen Wachtelkönig. Der Kampf gegen den Alkohol bleibt kräftezehrend, das Verlangen zu Trinken ist allgegenwärtig.

Auch die Inseln lassen Amy nicht mehr los. Sie zieht immer weiter nach Nordosten, verbringt Zeit auf immer kleineren, weniger besiedelten Inseln. Sie schwimmt zu jeder Jahreszeit im Meer, entdeckt die Unterwasserwelt und die Sterne, lernt, dass auch frische Luft trunken machen kann. Sie erkennt die Gemeinsamkeiten von Manie in der Familie und ihrer Sucht, findet Parallelen zwischen der Natur und sich selbst. „Die fortschreitende Erosion wird neue Brandungstore aus den Klippen meißeln, die dann zu Felsnadeln und im Laufe der Zeit wieder unterhöhlt werden. Die Insel wird beständig kleiner, die Klippen werden immer kunstvoller ausgeformt. Das Leben wird schmerzhafter, aber interessanter – die Wunden und Verletzungen werden im Laufe der Zeit abgetragen wie Narben in der Küstenlinie.“ (Zitat S. 272)

Die zwei Jahre auf den Orkney-Inseln verändern Amy, bringen sie heim und zu sich selbst. Es bleibt offen, wie es weiter geht und wohin das Leben sie verschlagen wird. Klar ist: Sie wird für immer suchtgefährdet sein und ist mutig genug, das sich selbst und uns einzugestehen. Aber es gibt Hoffnung.

In ihrem Buch verknüpft Amy Liptrot den Kampf gegen den Alkohol mit der Schilderung des Lebens auf den entlegenen Inseln, mit Naturbeobachtungen, der Vermittlung von Wissen über Naturphänomene und über die Geschichte ihrer Heimat. Keineswegs romantisiert sie die Natur oder stellt sie gar als Allheilmittel heraus. Meer, Wind und Regen sind allgegenwärtig. Ich habe beim Umblättern klamme Finger, die Gischt brennt auf meinem Gesicht. Ich höre, wie die Wellen gegen die Felsen schlagen und freue mich, wenn die Sonne durch die Wolken bricht.

Ein außergewöhnliches Buch, das ich Naturliebhabern, Meerbegeisterten, Schottlandfands und den Freunden rauer Landschaften ans Herz lege. Lesen!

Amy Liptrot: Nachtlichter.
btb Verlag, Oktober 2017.
352 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Ines Niederschuh.

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