Alexia Casale: Die Nacht gehört dem Drachen

dieEvie ist vierzehn, Vollwaise, seit ein paar Jahren adoptiert und von ihrer Kindheit sowohl seelisch als auch körperlich gezeichnet. Unter diesen Vorzeichen scheint das weitere Leben vorbestimmt zu sein wie eine Einbahnstraße. Doch Evie hat das Glück, von einem älteren Ehepaar adoptiert zu werden, das sie lieben kann, wie sie ist. Die Ich-Erzählerin des Romans ist für die neuen Eltern Amy und Paul eine zweite Chance für ein ausgefülltes Familienleben, das durch den frühen Tod ihres Sohnes beendet schien. Wie in jedem anderen Familienleben hat jeder von ihnen ein eigenes Maß an Last und Freuden zu tragen. Evie zum Beispiel fällt es schwer, sich ihren neuen Freundinnen anzuvertrauen. Hinzu kommt ihre persönliche Fehde mit einem reichen Nachbarjungen, der gern Schwächere schikaniert und Evie bei einer Auseinandersetzung in Lebensgefahr bringt.
Die Gemeinheiten in der Schule, die langsame Genesung nach einer Operation und Evies Weigerung, das Grab ihrer Mutter zu besuchen, bilden den psychologisch behutsam aufgebauten Rahmen eines Romans, dessen Thema „Das Leben danach …“ umschreibt.
Wie lebt es sich nach erlittenem Unrecht und Schmerzen? Wie verändert es den Menschen und seine Einstellung zum Leben? Was ist, wenn die Unschuld verloren ist?
„… Nur Dummköpfe sind der Meinung, die Unschuld wäre ein lästiger Zustand der Unwissenheit, dem Kinder entwachsen, sobald sie Andeutungen verstehen können. Aber vielleicht sind es gar keine Dummköpfe. Vielleicht sind es einfach nur Leute, die auf eine verkorkste erwachsene Art immer noch unschuldig sind, denn wenn das nicht so wäre, wüssten sie es besser, dann würden sie begreifen, dass Unschuld, auch wenn sie dies nicht in Worte fassen können, viel umfassender ist. … und schließlich begreift man, wie kostbar und wunderbar es ist, unwissend zu sein.“ (S. 249 ff)
Misshandelte Kinder haben selten eine Lobby, sie stehen am Ende der „Nahrungskette“, weil sie in der Regel kein Geld haben und ihnen die Möglichkeiten verwehrt sind, wie Erwachsene für ihre Rechte zu kämpfen.
Die englische Autorin Alexia Casale hat in ihrem ersten Jugendroman viel gewagt und einiges gewonnen. Zum einen hat sie die typische Rollenverteilung zwischen Opfer und Täter durchbrochen, in dem sie dem Opfer die Möglichkeit schenkt, eine ganz persönliche Verarbeitung zuzulassen. Dies beginnt mit der symbolträchtigen Verarbeitung der herausoperierten beschädigten Rippe, die Evie über viele Jahre hinweg Schmerzen bereitet hat. Der Kunstgriff, aus dem eigenen Knochenmaterial einen Drachen zu schnitzen und ihm ein Eigenleben zu erlauben, zieht sich als roter Faden durch die gesamte Handlung. Wie ein zweites Ich und zugleich wie ein routinierter Pfadfinder begleitet der Drache seine „Schöpferin“ Evie bei ihren Streifzügen durch Nacht.
Der Roman ist mal in einer schlichten, mal in einer poetischen Sprache geschrieben. Bei manchen Naturbeschreibungen drängt sich der Eindruck auf, dass hier ein Erwachsener Evies Wahrnehmungen übersetzt hat. Insgesamt bleibt die Überraschung, wie klug und stark ein von der Familie gezeichnetes Mädchen sein kann. Die zahlreichen Andeutungen erlauben dem Leser, zu verstehen und daraus einen zweiten Spannungsbogen zu ziehen, wenn Evies Drache die Regie übernimmt. Diese dürfte eine dieser Grenzen sein, an der Unschuld aufhört und etwas anderes beginnt.

Alexia Casale: Die Nacht gehört dem Drachen.
Carlsen, Oktober 2013.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 14,90 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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