Alex Capus: Königskinder

Der Schweizer Alex Capus (Jahrgang 1961) ist Autor von Romanen, Kurzgeschichten und Reportagen. Er hat seine Leserinnen und Leser 2016 in „Das Leben ist gut“ mit dem Paar Max und Tina bekannt gemacht. In Capus‘ neuem Roman „Königskinder“, der am 20. August 2018 im Carl Hanser Verlag erschienen ist, begegnen wir Max und Tina wieder.

Max und Tina fahren mit ihrem roten Toyota Corolla auf eine gesperrte Passstraße in den Schweizer Bergen. Es schneit, kurz hinter der Passhöhe kommt der Wagen von der Straße ab und lässt sich nicht mehr manövrieren. Das Paar steckt im Schnee fest und muss auf die Schneefräse warten, die am nächsten Morgen die Passstraße frei räumen wird. Zum Glück haben sie gut zu Abend gegessen und eine Decke dabei. Zum Einschlafen erzählt Max Tina eine Geschichte, eine angeblich wahre Geschichte, aus Greyerzerland. Und wenn es nicht so stark schneien würde, könnten sie gegenüber die Melkhütte am Hang erkennen, in der die Geschichte vom Hirten Jakob Boschung ihren Anfang nimmt.

Nach dem Tod seiner Eltern und Geschwister und der Flucht vor seinem gewalttätigen Onkel lebt Jakob allein auf der Alp und hütet die Kühe der reichen Bauern aus dem Tal. Als er im Herbst des Jahres 1779 die Kühe von der Alm ins Tal treibt, verliebt er sich in Marie, die Tochter des reichen Bauern Magnin. Der Bauer will eine Beziehung zwischen den beiden unbedingt verhindern. Jakob und Marie reißen aus und verbringen eine kurze Zeit in der Melkhütte. Aber die Knechte des Bauern stöbern sie auf. Marie wird zurück zum Hof gebracht und Jakob flieht zum Militär. Er verpflichtet sich für acht Jahre Kriegsdienst, diese Zeit verbringt er in Frankreich, in Cherbourg am Ärmelkanal. Der Krieg lässt ihn ungeschoren und 1787 wird er entlassen. Die Ballonfahrt der Gebrüder Montgolfier gelingt und ein Erdbeben mit Vulkanausbruch auf Island taucht die Welt in schwefelgelben Nebel und Kälte. König Ludwig XVI. regiert in Frankreich und residiert auf Schloss Versailles. Seine Schwester, Prinzessin Elisabeth, langweilt sich und steckt ihre Energie ins Landgut Montreuil, das sie zu ihrem „Paradies“ machen will, u.a. schafft sie auch Schweizer Milchkühe an und will einen Schweizer Hirten anstellen.

Derweil kehrt Jakob ins Greyerzerland zurück. Marie ist inzwischen volljährig. Wieder entwischen die beiden auf die Melkhütte und verleben den Winter dort.  Im Frühjahr stehen Soldaten vor der Tür und wollen Jakob mit nach Versailles nehmen, weil der König einen Schweizer Kuhhirten sucht. Jakob folgt dem Befehl. Marie geht auf den Bauernhof des Vaters zurück. Jakob kümmert sich fortan um die Freiburger Milchkühe und sie gedeihen prächtig. In Prinzessin Elisabeth findet er eine Gönnerin. Aber Jakob hat Heimweh nach dem Greyerzerland und nach Marie. Einzig mit dem italienischen Kastraten (dem „Grizzly“), der am Hofe des Königs singt, freundet er sich an. Elisabeth erkennt Jakobs Kummer und lässt Marie nachholen. Maries Vater gibt sich geschlagen und Marie darf zu Jakob nach Montreuil. Im April 1789 trifft sie dort ein. Die beiden heiraten. Dann beginnen die Wirren der französischen Revolution und gemeinsam mit dem „Grizzly“ und den Kühen verlassen Jakob und die schwangere Marie Montreuil und kehren zurück in ihre Heimat.

Mit dem Ende der Geschichte haben auch Max und Tina die Nacht im eingeschneiten, roten Toyota Corolla überstanden und machen sich zu Fuß auf ins Tal.

Alex Capus hat mit „Königskinder“ ein herrliches Buch geschrieben. Schon auf den ersten Seiten nimmt das streitlustige Paar Max und Tina mich als Leserin im Sturm für sich ein. Das liegt vor allem an den wunderbaren Dialogen, die Capus die beiden sprechen lässt. Und dann erzählt er -quasi als Gute-Nacht-Geschichte für Tina- vom Hirten Jakob Boschung und der Bauerntochter Marie Magnin, den „Königskindern“, aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Immer wieder unterbrochen von den überaus unterhaltsamen Einwürfen der beiden eingeschneiten Insassen des roten Toyota Corolla:

„»Was hat die Prinzessin damit zu schaffen?«

»Das will ich dir ja erzählen.«

»Hat sie ein Diadem im seidenen Haar? Wird sie von einem Königssohn wachgeküsst und so weiter?«

»Sie ist ein schwer erziehbarer Wildfang mit Autoritätsneurose und Aufmerksamkeitsdefizit.« (S. 72).

Capus macht das in seiner lässigen, humorvollen und bildhaften Sprache, und da sind die Zeitsprünge zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart beinahe übergangslos. So schmunzele ich nur ein paar Zeilen später über seine Beschreibungen vom Leben am französischen Königshof zu Zeiten Ludwigs XVI.:

„»Das Mädchen langweilt sich tödlich auf Schloss Versailles. Immer nur Perücken pudern und Korsagen zurren, ständig beten und Aquarelle malen, Tag für Tag Cembalo spielen, Harfe zupfen und Taschentücher besticken, immerzu Deutsch, Italienisch und Russisch büffeln für den Fall, dass man an ein ausländisches Königshaus verheiratet wird, immer dieses Rascheln von Tüll und Taft und Musselin, und kein unbeherrschtes Lachen, kein lautes Wort ist ihr gestattet…«“ (S. 72/73).

„Königskinder“ von Alex Capus ist nicht nur ein schön geschriebener Liebesroman über zwei sehr unterschiedliche Liebespaare aus verschiedenen Jahrhunderten, sondern auch ein Loblied auf die Kunst und die Macht des Erzählens. Das Buch ist von der ersten bis zur letzten Seite ein wahres Lesevergnügen.

Alex Capus: Königskinder.
Hanser, August 2018.
176 Seiten, Gebundene Ausgabe, 21,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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