Agnete Friis: Der Sommer mit Ellen

Jakobs Leben ist gerade kompliziert. Er hatte ein Verhältnis mit Janne, einer jungen Mitarbeiterin seines Architekturbüros, die nun nichts mehr von ihm wissen möchte. Seine Frau Kirsten hat sich von ihm getrennt, seine Kinder sind erwachsen und wollen kaum noch etwas von ihm wissen und auch sein Firmenpartner Bjarne möchte ihn im Büro nicht mehr sehen. Viel Alkohol und wenig Perspektiven stürzen ihn in eine Krise.

Als sein Großonkel Anton anruft und ihn um Hilfe bittet, zögert Jakob zunächst. Er soll Ellen suchen, die Frau, in die er als Jugendlicher im Sommer 1978 verliebt war und die plötzlich verschwand. Die Vorkommnisse von damals hat Jakob erfolgreich verdrängt, doch sie schwelen in ihm weiter. Seitdem er sein Heimatdorf verlassen hat, um zu studieren, ist er kaum jemals dort gewesen. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, zurückzukehren und zurückzuschauen. Er bricht auf nach Ostjütland, wo Anton und sein Bruder Anders – beide um die 90 – immer noch auf demselben Hof wohnen wie früher. Jakobs Erinnerungen lassen sich nicht mehr unterdrücken.

Alles hatte damals mit Lises Verschwinden begonnen. Die Schwester von Jakobs Freund Sten war von Zuhause weggelaufen, hieß es. Die Geschwister waren in einen dauernden Kleinkrieg verstrickt. Sten wollte nicht, dass Lise mit Männern herummachte, Lise wollte sich nicht mehr gängeln lassen. Doch dass sie sich nun gar nicht mehr meldete, war doch sehr erstaunlich.

Jakob hatte derweil andere Probleme. Seine Mutter war zu einer Tante gefahren, sein Vater trank zu viel. Mit der Ehe stand es nicht zum Besten. Obwohl sein Vater ihm einen Ferienjob vermittelt hatte, wollte Jakob lieber Anton und Anders helfen. Auf keinen Fall wollte er mit seinem Vater allein im Haus bleiben. Auf seinem Rennrad, mit ein paar Kleidern und seinen Zeichensachen machte er sich auf den Weg auf den Hof. Bald schon lernte er dort Ellen kennen, eine junge Frau, die mit ihrem Freund und ein paar anderen Leuten in einer Hippie-Kommune nicht weit entfernt wohnte. Sie faszinierte ihn vom ersten Augenblick an. Sein jugendliches Blut geriet in Wallung, erst recht, als Ellen für eine Weile auf dem Hof unterkam. Und die Geschichte mit Lise war auch noch nicht ausgestanden.

Düster und derb geht es zu im neuen Roman von Agnete Friis. Die dänische Autorin, selbst in den 1970ern in Jütland geboren, zeigt den Leserinnen und Lesern in „Der Sommer mit Ellen“ nur selten die schönen Seiten des Landlebens (und des Lebens überhaupt). Der Wert der Tiere wird nach ihrem Nutzen bemessen und zimperlich ist man mit ihnen auch nicht. Die Menschen sind der Natur, sich selbst und den anderen ausgeliefert. Von Akzeptanz für verschiedene Lebensentwürfe ist wenig zu spüren. Wer anders leben möchte, muss fortgehen.

Agnete Friis ist es beeindruckend gut gelungen diese Atmosphäre zu erschaffen, die Verbindungen zwischen gestern und heute zu knüpfen. Nur langsam löst sie so manches Geheimnis. Im erwachsenen, kultivierten Jakob steckt noch viel, was ihn in seiner Kindheit und Jugend geprägt hat. Im Laufe der Geschichte wird ihm das erst richtig bewusst. Die Autorin entwickelt die Figur auf beiden Zeitebenen meisterhaft, ohne sie unnötig auszuwalzen. Auch die Charaktere der anderen Beteiligten stellt sie plausibel und anschaulich dar. Sie wirken vielschichtig und wie aus dem Leben gegriffen: der verantwortungsbewusste Anton, der seine Bedürfnisse meist zurückstellt; die ambivalente Persönlichkeit von Anders – körperlich stark, aber geistig schwächer und mit seinen Gefühlen manchmal überfordert –; Stens Zerrissenheit oder Ellen, die das Leben spielerisch und selbstbewusst zu nehmen scheint, doch damit nicht allen Situationen gewachsen ist.

„Der Sommer mit Ellen“ ist kein Wohlfühlbuch. Nur selten – etwa, wenn Jakob und Ellen zusammen zeichnen – stellen sich positive Gefühle ein, meint man, ein kleines Stückchen Glück oder Hoffnung zu spüren. Doch es ist dicht erzählt, spannend und rätselhaft wie ein Krimi. Wer sich darauf einlässt, wird mit einem außergewöhnlichen literarischen Werk belohnt, das seine Nominierung für den dänischen Romanpreis verdient hat und das ich sehr empfehlen kann.

Agnete Friis: Der Sommer mit Ellen.
Eichborn, April 2020.
336 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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