A. J. Finn: The Woman in the Window

Eine ans Haus gefesselte Frau beobachtet durch ihr Fenster, wie ihre neue Nachbarin ermordet wird. Doch niemand glaubt ihr. Kommt Ihnen das bekannt vor? A. J. Finn macht keinen Hehl aus seinen Anleihen an das Hitchcock-Meisterwerk „Das Fenster zum Hof“ aus dem Jahr 1954. Absolut spektakulär ist seine Umsetzung in die Moderne gelungen! Überraschende Wendungen, beklemmende Einblicke in eine traumatisierte Seele und drei verschiedene Suspense-Ebenen machen das Buch zu einem Pageturner par excellence. Da geriet sogar Stephen King ins Schwärmen…

Die ehemalige Kinderpsychologin Anna Fox leidet an Agoraphobie. Menschenmassen, offene Plätze und alles, was sich außerhalb ihrer vier Wände abspielt, machen ihr Angst. Seit einem traumatischen Vorfall vor zehn Monaten hat sie ihr Haus in New York nicht mehr verlassen. Mann und Tochter sind fort, ihren Job musste sie aufgeben. Derart um eine eigene Existenz gebracht, verbringt sie ihre Zeit neben ihrer Leidenschaft für alte Schwarz-Weiß-Krimis damit, ihre Nachbarn zu beobachten. Durch eine Kamera zoomt sie sich in das Leben der Anderen. So auch bei Jane und Alistair Russel, die mit ihrem sechszehnjährigen Sohn Ethan ins Nebenhaus einziehen. Wenige Tage später beobachtet Anna, wie Jane Russel blutüberströmt zusammenbricht. Etwas Spitzes ragt aus ihrer Brust. Anna ruft die Polizei und will der Frau zur Hilfe eilen, wird allerdings ohnmächtig, als sie versucht ihr Haus zu verlassen. Die Ermittler wollen ihr nicht glauben. Denn eine ihr völlig fremde Frau stellt sich als die „wahre“ Jane Russel vor. Scheinbar ist nichts passiert.

Dies führt Anna zu einem weiteren Problem. Als Zeugin macht sie einen wenig seriösen Eindruck. Seit ihrem Trauma hat sie ein ausgeprägtes Alkoholproblem entwickelt und schluckt dazu hochdosierte Medikamente, die vor allem in Verbindung zu Halluzinationen führen können. Hat Anna sich alles nur eingebildet? Will sie damit Aufmerksamkeit erregen? Ist dies ein versteckter Hilferuf?

Die Polizei stellt die Nachforschungen ein. Also versucht Anna mit ihren begrenzten Möglichkeiten, selbst Licht ins Dunkel zu bringen. Plötzlich erhält sie Drohungen, fühlt sich verfolgt, hat zunehmend Probleme Realität und Traum auseinanderzuhalten. Wem wird sie zuerst in die Hände fallen – dem eigenen Wahn oder dem vermeintlichen Mörder?

A. J. Finn ist ein spannendes Meisterwerk gelungen. Mit der Garantie zum Fingernägelkauen! Dies funktioniert deshalb so hervorragend, weil sein Plot mit drei verschiedenen Spannungsebenen spielt. Da ist zum einen die Storyline über das Verbrechen. Hat sich Anna alles nur eingebildet oder wurde die mysteriöse Frau wirklich ermordet? Wenn ja, von wem?  Die zweite Spannungsebene zeigt den alptraumhaften Alltag einer an Agoraphobie Erkrankten. Ein offenes Zimmer, ein geklapptes Fenster, das Klingeln an der Haustür – scheinbar alltägliche Dinge rufen in Anna bereits Panikattacken hervor. Der Blick in ihr klaustrophobisches Innenleben, komplett ausgegrenzt von der unkontrollierbaren „Welt da draußen“, erzeugt Beklemmung. Was uns zur dritten Spannungsebene führt. Wie kam es zu Annas Trauma? Etwas Schreckliches muss in ihrer Vergangenheit passiert sein. Nach und nach lüftet sich das Geheimnis.

Mit Leichtigkeit schafft es der Autor, die Ausgangssituation von Alfred Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“ ins Jetzt zu transportieren. Die Begleitumstände sind heute ganz andere. Der Lieferservice bringt das Essen bis vor die Haustür. Via Skype lassen sich Französischunterricht und Schachturniere mit virtuellen Bekanntschaften abhalten. Und durch DVDs und Flatrates gibt es unbegrenzten Zugang zu den Geschichten anderer Leute. Dazu ein attraktiver Untermieter, der bei Erledigungen und Reparaturen zur Hand geht. Eigentlich braucht Anna ihr Haus gar nicht zu verlassen, oder? Als ihre begrenzte Welt durch das Verbrechen erschüttert wird, wird ihr klar, wie einsam sie in Wirklichkeit ist. Wem soll sie sich anvertrauen? Ihre Familie ist weg, die Polizei will ihr nicht glauben, der Psychiater verschreibt ihr stärkere Medikamente. Anna muss ihre Dämonen selbst besiegen, um nicht daran zu zerbrechen. Dabei wächst sie zu einer starken literarischen Frauenfigur heran, die es ganz ohne Mann, Polizist oder Retter an ihrer Seite schaffen kann.

Übrigens: Mit Dämonen kennt sich A. J. Finn bestens aus. Nachdem er über 15 Jahre lang an Depressionen gelitten hat, wurde 2015 bei ihm eine bipolare Störung diagnostiziert.

Fans von Filmklassikern kommen bei diesem Buch ebenfalls ganz auf ihre Kosten. Die Geschichte weist zahlreiche Referenzen an die Krimis der 40er bis 60er Jahre auf, zum Beispiel „Vertigo“ oder „Die schwarze Natter“. Auch der Name Jane Russel – in Anlehnung an die Schauspielikone – kommt nicht von ungefähr. Daneben ist A. J. Finns Sprache klar, modern, pointiert. Er schafft es sogar, ironische Sidekicks in die Materie einfließen zu lassen. Zudem verfügt er über ein gutes Gespür für szenisches Schreiben. Ob der Journalist und ehemalige Oxfordstudent da schon geahnt hat, das sein Buch einmal verfilmt wird? Form und Sprache des Buches eignen sich dafür jedenfalls hervorragend.

Fazit: A. J. Finn ist die literarische Neuentdeckung des Krimigenres. Alfred Hitchcock dürfte in seinem Grab Freudensprünge vollführen, Stephen King honoriert ihn als würdigen Kollegen und wir Leser können uns auf eine schlaflose Nacht plus eventuell diverse Gläschen Merlot zur Beruhigung (sowie in Anlehnung an die Vorlieben der Protagonistin) einstellen.

A. J. Finn: The Woman in the Window.
Blanvalet, März 2018.
544 Seiten, Taschenbuch, 15,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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