A. F. Th. van der Heijden: Das Biest

biestDer niederländische Schriftsteller Adrianus (Adri) Franciscus Theodorus van der Heijden, geboren 1951, ist in der Nähe von Eindhoven aufgewachsen und lebt heute in Amsterdam. Zuletzt erschien 2011 bei Suhrkamp „Tonio – Ein Requiemroman“, den der Autor nach dem plötzlichen Unfalltod seines einzigen Sohnes Tonio verfasste. Bekannt geworden ist Adri van der Heijden hierzulande vor allem durch seinen mit Preisen ausgezeichneten Romanzyklus „Die zahnlose Zeit“, in dem er ein Porträt der Nachkriegsgeschichte in den Niederlanden zeichnet. Auf die Figur Albert Egberts aus diesem Zyklus stößt der Lesende nun auch in dem neuen Roman „Das Biest“, der im September aus dem Suhrkamp Verlag in die Buchläden kam.

„Das Biest“ ist Alberts Tante Tineke Kassenaar geborene van der Serckt, die jüngere Schwester von Alberts Mutter Johanna. Ob bei sich zu Hause oder in fremden Zimmern, stets zückt sie ihr gelbes Staubtuch, das ihr den Spitznamen Tientje Putz einbringt. Damit wirbelt Tante Tiny den Staub auf, den die Familie lieber unter den Teppich gekehrt hätte. Hinzu kommt außerdem ihr scharfes Mundwerk, vor dem keiner sicher sein kann.

Ihr Neffe Albert, aus dessen Sicht die Geschichte geschrieben ist, aber hat ein besonderes Interesse an seiner schönen Tante. Er beobachtet über Jahre, wie sie zunächst ihre Eltern und nach deren Tod ihre Schwester, Alberts Mutter, drangsaliert und quält.

Tante Tiny hat es schwer. Sie wächst in einem tief katholischen, armen und strengen Elternhaus auf. Lange findet sie keinen Mann, erleidet angeblich eine Fehlgeburt und gilt als unfruchtbar. Nach einigen vergeblichen Anläufen heiratet sie Koos Kassenaar, den „Roten Hahn“ mit den vollen Lippen und dem rosigen Gesicht. Aber schon am Hochzeitstag gibt es einen großen Krach, weil Koos von dem Gerücht der Unfruchtbarkeit seiner Braut hört. Die Ehe bleibt tatsächlich kinderlos, wobei eine ärztliche Untersuchung scheinbar belegt, dass Koos zeugungsunfähig sein soll.

Albert schwärmt für seine hübsche Tante, übernachtet häufig in den Ferien bei ihr und entdeckt seine Sexualität. Er fantasiert über einen Inzest. Tiny streitet, lügt und poltert derweil weiter. Sie tyrannisiert ihren Ehemann und ihre Familie, benutzt Familienfeiern für ihre theatralischen Auftritte. Sie hetzt gegen ihre Eltern und ihre Schwester. Albert betrachtet dies alles neugierig, jedoch ahnungslos. Selbst als Erwachsener greift er nicht ein, wenn Tante Tiny gegen seine Großmutter oder seine Mutter wütet.

Irgendwann, Jahre später, Alberts Mutter Johanna ist schwer an Parkinson erkrankt und lebt in einem Heim, kommt dann die Wahrheit ans Licht und erklärt Tientje Putzs unstillbare Wut auf die Familie. Und auch Tinys geduldiger Ehemann Koos Kassenaar hat noch eine große Überraschung parat.

Adri van der Heijden entfaltet in „Das Biest“ eine Familiengeschichte mit zutiefst tragischen und zuweilen komischen Zügen. Er nimmt den Lesenden mit in die niederländische, katholisch-prüde Provinz in den 1950er Jahren und  erzählt die Geschichte aus der Sicht seines Alter Ego Albert Egberts über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Mit der für van der Heijden typischen Wortgewalt zieht der Roman mich als Lesende in seinen Bann. Gespannt verfolge ich das Schicksal von Tante Tiny vom jungen Mädchen bis zur Siebzigjährigen und bin wie der Erzähler Albert fasziniert und abgestoßen zugleich von ihrem schlechten Charakter und ihrer bösen Art. Diese Frau rächt sich ihr ganzes Leben lang für ein zugefügtes Leid, an dem sie ihrer Familie die Schuld gibt. Dabei ist die Protagonistin Tientje Putz die traurigste Figur der Geschichte, der jedoch jedes Mitleid versagt bleibt, weil sie Gift und Galle spukt.

Dem Rest der Familie und anderen Personen im Roman bleiben die Nebenrollen, wenngleich auch sie von Adri van der Heijden vorzüglich besetzt sind, wie zum Beispiel Tinys Ehemann Koos oder Oma und Opa van der Serckt.

Und dann ist da noch Albert, der Beobachter und Bewunderer seiner Tante. Er wird so herrlich gegenwärtig in seiner zunächst kindlichen Zuneigung zu seiner Tante, die je älter er wird, erotische Züge annimmt und seine sexuellen Phantasien beflügelt. Albert bekleckert sich nicht mit Ruhm, denn er lässt seiner Tante viele  Misshandlungen und Vorwürfe durchgehen. Aber schließlich ist er es, der sie dazu bewegt, ihr Unheil nach fünfzig Jahren beim Namen zu nennen. Und am Ende darf er die Trauerrede auf seine Tante halten.

Der Mikrokosmos Familie mit all seinen Licht- und Schattenseiten bleibt ein Hauptthema in van der Heijdens Romanen und ist auch in „Das Biest“ auf vortrefflichste Weise erzählt. Bitte lesen.

A. F. Th. van der Heijden: Das Biest.
Suhrkamp, September 2016.
303 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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